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Gilt die Bundesverfassung 1929 ?

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S 208.— höheren Einkommensbetrag berechnet. Wenn aber ein kinderloses Ehepaar Doppelverdiener ist, genießen beide ungeschmälert die Begünstigung der Steuergruppe II. Die Haushaltbesteuerung in der Lohnsteuer, die diesmal nahe der Verwirklichung war, konnte abermals nicht durchgesetzt werden.

Die öffentlichen Kinderbeihilfe-zuschüsse sind, besonders bei den niedrigen Einkommen, allmählich in erfreulichem Maße wirksam geworden, da sie von Abkommen zu Abkommen immer mehr Prozente des Aufwandes für die Grundnahrungsmittel abgelten. Aber auch hier verhindern die mechanischen Lösungen eine letzte optimale Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit. Der uniforme Satz der Kinderbeihilfe beispielsweise schließt folgende Unbilligkeiten ein:

a) Eine Reihe von Gütern, welche bei Kindern zu den Grundnahrungsmitteln zu rechnen sind, werden nicht abgegolten.

b) In der jüngsten Regelung beträgt die Erhöhung der Kinderbeihilfe S 45.—,

der monatliche Mehraufwand für ein Kind jedoch S 4 6.8 6 — ohne Beachtung der Tariferhöhungen. Dazu kommt, daß man bei der quantitativen Bemessung der Nahrungsmittel fast durchwegs von Kleinkindern ausging. Bei den Erwachsenen werden die Mehraufwendungen für die preisgeregelten Nahrungsmittel (S 89.39 für zwei Personen) und die Tariferhöhungen (S 36.94) statt mit S 126.33 mit S 125.30 vergütet, das heißt: starrer Betrag von S 140.— (wenn nicht mehr) abzüglich 10,5 Prozent für Sozialversicherung und Arbeiterkammer. Diese Abgeltung, die ja für zwei Personen gerechnet ist, wird auch dann gezahlt, wenn beide Ehepartner verdienen. Bei den Kindern werden dagegen nicht einmal die vollen Mehraufwendungen für Nahrungsmittel, von den Tarifaufwendungen ganz zu schweigen, vergütet.

überdies hat man es auch diesmal vermieden, endlich zum System der relativen Begünstigung überzugehen und bei Bemessung der Kinderbeihilfe

auf Einkommenshöhe und Kinderzahl Rücksicht zu nehmen.

Zu den bisherigen Begünstigungen der Familie mit Kindern müßten außerdem noch eine Reihe von weiteren treten, etwa:

a) Verbilligte Mietzinse.

b) Eine Art „Quartiergeld“ für Kinder, zusätzlich für Kinderbeihilfe.

c) Bevorzugung bei Siedlungsdarlehen und Finanzierung von Eigentumswohnungen.

Sosehr wir also die Fortschritte anerkennen, muß nachdrücklichst gefordert werden, daß das öffentliche Begünstigungswesen noch mehr auf die Familie Bedacht nimmt.

Es wird heute so viel Politik des „kleinen Mannes“ gemacht. Die Einkom-mensnivellierung beispielsweise liegt auf dieser Linie. Auch die Mietzinsregelung soll vor allem dem kleinen Hausherrn zugute kommen. Wie wäre es aber, wenn man auch einmal mit der Politik für die „kleine“ Hausfrau Ernst machte?

A. B.

Wo immer ein Österreicher glaubt, durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde in einem „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt zu sein“, gibt ihm Artikel 144 des Bundesverfas-sungsgesetzes 1929 das Recht, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Was ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht ist, beurteilt der Verfassungsgerichtshof nach Maßgabe desselben Bundesverfassungsgesetzes 1929, dem er selbst seine juristische Existenz verdankt. Wenn auf den Universitäten Verfassungsrecht gelehrt wird, so gilt der Vortrag ebenfalls dem BVG 1929 und wenn der Bundespräsident sein Amtsgelöbnis leistet, so geschieht dies in der im Artikel 62 desselben Gesetzes vorgeschriebenen Form. Die Geltung der Verfassung 1929 ist bisher von keinem österreichischen Gericht, von keinem österreichischen Gelehrten und von keinem österreichischen Politiker bestritten worden. Wenn daher nunmehr der durch seine Tätigkeit im sogenannten .Friedensrat“ bekannte Grazer Professor des Völkerrechts H. Brandweiner * behauptet, das BVG 1929 sei nicht geltendes Recht, so verdienen seine Argumente schon deshalb eine Nachprüfung, weil in der Sitzung des Alliierten Rates vom 9. Februar 1951 der russische Vertreter ähnliche Gedankengänge wie er entwickelt zu haben scheint.

Nach Brandweiner ist Österreich ein Staat, der der Protektion der vier Besatzungsmächte untersteht. Die juristische Existenz Österreichs beruhe auf dem I. Alliierten Kontrollabkommen vom 4. Juli 1945; vorher gab es einen österreichischen Staat — trotz der Unabhängigkeitserklärung der „drei demokratischen Parteien“ vom 27. April 1945 — nicht, weil das Land 1938 durch Annexion ein Teil des Großdeutschen Reiches geworden und die deutsche Rechtsordnung durch keine „effektive“ österreichische Rechtsordnung abgelöst worden sei. Diese Annexionstheorie, die also die Vergewaltrgung des österreichischen Volkes im Jahre 1938 für ein rechterzeugendes Unrecht hält, hängt mit Brandweiners Bekenntnis zum Rechtspositivismus Kelsenscher Prägung zusammen.

Zwar — so fährt Brandweiner fort — hat das vom Alliierten Rat vom 18. Dezember 1945 genehmigte Verfassungs-überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945 das Bundesverfassungsgesetz in der Fassung von 1929 „wieder in Wirksamkeit gesetzt“. Dieses erste Verfassungs-Über-leitungsgesetz (Artikel 4), die nach sechs Monaten außer Kraft getretene „Vorläufige Verfassung“ vom 1. Mai 1945 (Artikel IV), und das zweite Verfas-sungs-überleitungsgesetz vom 13. Dezember 1945 (Artikel I) hatten allerdings die endgültige Regelung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse dem Nationalrat vorbehalten, der dann in der Tat am

* Heinrich Brandweiner, „Die Rechtsstellung Österreichs“. Schriftenreihe: „Zeittragen auß Recht, Staat und Wirtschaft*. Herausgegeben von Josef Dobretsberger, Pallas-Verlag, Wien,

19. Dezember 1945. ein „Verfassungs-Ubergangsgesetz“ beschloß, das erneut die Verfassung 1929 „in Wirksamkeit setzte“.

Hieraus folgert Brandweiner nun, daß der österreichische Gesetzgeber bis zum 19. Dezember 1945 nicht die Absicht gehabt habe, die Verfassung 1929 wieder einzuführen. In Wirklichkeit freilich lassen sich die von Brandweiner konstruierten scheinbaren Widersprüche leicht beheben, wenn man davon ausgeht, daß nach dem Willen der Bundesregierung eine Verfassung, deren Artikel 1 besagt, daß das Recht Österreichs vom österreichischen Volk ausgehe, nicht durch Beschluß einer Regierung, die sich im Grunde autoritär selbst ernannt hatte, sondern eben, gemäß ihren, eigenen demokratischen Grundsätzen, von den gewählten Volksvertretern erneut bestätigt werden sollte. Die bis dahin autoritäre, aber nur provisorische Wiedereinführung der Bundesverfassung 1929 sollte ihren Charakter als Provisorium auf demokratische Weise verlieren. Daraus, daß die österreichische Regierung des Jahres 1945 als autoritäre Regierung mit demokratischer Gesinnung in der Zeit bis zum Zusammentreten des Nationalrats ihr Gesetzgebungswerk als ein formal provisorisches ansah, kann aber keinesfalls gefolgert werden, daß das, was aus nur formalen Gründen provisorisch gewollt war, nämlich die Wiedereinführung der Verfassung 1929, in Wirklichkeit materiell überhaupt nicht gewollt worden sei. Wer sich selbst nur als provisorischen Gesetygeber betrachtet, kann wohl nicht umhin, nur provisorische Gesetze zu erlassen. Aber daraus kann man nicht schließen, daß der provisorische Wille des Gesetzgebers nicht gleichwohl Wille des Gesetzgebers schlechthin gewesen sei.

Brandweiner freilich meint, der Alliierte Rat habe am 18. Dezember 1945 mit dem ersten Verfassungs-Uberlei-tungsgesetz keineswegs auch die Verfassung 1929 selbst genehmigt. Auf jeden Fall aber habe der Alliierte Rat am 25. März 1946 dem Beschluß des Nationalrats vom 19. Dezember 1945 auf Wiedereinführung der Verfassung 1929 nicht zugestimmt, sondern ausdrücklich die Vorlage einer neuen „demokratischen“ Verfassung binnen sechs Monaten verlangt; seihst wenn man also annehmen sollte, daß mit dem ersten Verfassungs-Uberleitungsgesetz 1945 die Verfassung 1929 mitgenehmigt worden sei, so sei doch diese Zustimmung später widerrufen worden. Feststehe jedenfalls, daß die Verfassung 1929 nicht gelte, da sie im Widerspruch zu einer bindenden Weisung des Alliierten Rates stehe. Dieser aber stelle in Österreich die oberste Autorität dar, weil das alliierte Kontrollabkommen kraft seiner Effektivität als völkerrechtlicher „Vertrag zu Lasten Dritter“ , für Österreich verbindlich sei. (Wobei Brandweiner allerdings das kleine Malheur passiert, sich für seine These vom Primat des Völkerrechts über die nationale öster-

reichische Rechtsordnung ausgerechnet auf Artikel 145 des BVG 1929 als „positive österreichische Rechtsordnung“ zu berufen, a. a. O. S. 24, Anmerkung 29.)

Nun steht aber fest, daß die österreichische Regierung keineswegs eine neue „demokratische“ Verfassung dem Alliierten Rat vorgelegt, sondern im Gegenteil, mit voller Zustimmung des Nationalrats und des Bundesrats (gegen die Stimmen der Kommunisten) erklärt hat, daß für Österreich ausschließlich, und zwar definitiv, die Verfassung von 1929 gelte. Das war am 16. April 1 9 4 6. Der Alliierte Rat hat sich mit dieser Erklärung der Bundesregierung abgefunden. Er hat nie versucht, seine „Weisung“ vom 25. März 1946 durch Sanktionen im Sinne von Artikel 2, lit. c II, des IL Kontrollabkommens durchzusetzen. Aber auch keiner der Hochkommissare hat irgendwelche Maßnahmen in seiner Zone ergriffen, die als zwangsweise Durchsetzung des Beschlusses vom 25. März 1946, gemäß Artikel 2, lit. d, des Kontrollabkömmens angesehen werden könnten. Auch die Ablehnung des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch den russischen Vertreter im Alliierten Rat am 9. Februar 1951 ist keineswegs dazu benützt worden, um die russische Rechtsansicht durch irgendwelche Zwangsmaßnahmen in die Tat umzusetzen, und die drei anderen Besatzungsmächte haben in dieser Sit-

zung die Verfassung 1929 sogar ausdrücklich anerkannt.

Wenn man also schon mit Brandweiner vom Effektivitätsprinzip ausgehen will, so ergibt sich auf der einen Seite, daß die Bundesverfassung 1929 von den österreichischen Behörden effektiv gehandhabt. wird, während umgekehrt der Beschluß des Alliierten Rates vom 25. März 1946 immer nur auf dem Papier geblieben und niemals effektiv geworden ist. Von Brandweiners eigenen positivistischen

Voraussetzungen aus muß man also zu den genau entgegengesetzten Folgerungen kommen wie er, so daß es sich erübrigt, seine Ausgangsposition selbst unter die Lupe zu nehmen. Man kann also nicht recht einsehen, warum Brandweiner am Schlüsse seines Aufsatzes in ein pathetisches „Videant consules“ ausbricht, als ob Österreichs juristische Existenz wegen der Uneinigkeit der vier Besatzungsmächte über die Geltung der Bundesverfassung 1929 erneut in Gefahr wäre. Ein großer Österreicher, Karl Renner, hat in seiner letzten Neujahrsbotschaft ganz andere Folgerungen aus dieser Uneinigkeit gezogen:

„Vier Mächte besetzten unser Land auf Grund des gemeinsamen“ Sieges und haben es unternommen, uns gemeinsam al6 Staat wieder aufzurichten. Wie aber steht es heute um diese Gemeinsamkeit? Sie ist für alle Welt (raglich geworden. Fällt sie dahin und besteht sie nicht mehr, so fällt auch jede rechtliche Legitimation außer der tatsächlich militärischen Machtübung . . Hier (in Osterreich) besteht de facto ein demokratisches Staatswesen, über das de jure kein anderes zu gebieten hat.“

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