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Über die Notwendigkeit einer "Reinigung der Vernunft".

Wir reden vom Leben in einer Wissensgesellschaft, wir reden davon, dass das Wissen immer mehr zunimmt; manche betrachten Wissen als Ware, die man gegen entsprechendes Honorar erwerben könne, die Universitäten werden unter diesem Aspekt zu Großbetrieben und schaffen wichtige Ressourcen für Wirtschaft und Staat. Die kaum vorstellbare Schnelligkeit, mit der das Wissen vermehrt wird, der Zugriff des forschenden Denkens auf alle Lebensbereiche erzeugt Hoffnung und Angst gleichzeitig. Hoffnung, weil der Fortschritt der Wissenschaft helfen kann, Krankheiten zu bekämpfen, wirtschaftliche Prosperität zu steigern; Angst wird erzeugt, wenn man bedenkt, dass Wissenschaft die Verfügungsgewalt des Menschen über die Welt bis ins Unendliche zu steigern vermag - der Mensch selbst ist von dieser Unterwerfung unter das Wissen nicht ausgenommen.

In dieser Situation ist es bemerkenswert, dass Papst Benedikt xvi. in seiner schon viel diskutierten ersten Enzyklika auf die Kraft der Vernunft zu sprechen kommt. Sein Thema ist die Liebe: "Deus caritas est". Die Liebe fordert in Staat und Gesellschaft Gerechtigkeit. Diese beiden sind allerdings zu unterscheiden. Gerechtigkeit ist ein Problem der praktischen Vernunft - ihr kommt die Aufgabe zu, diesen Begriff zu definieren und zu klären.

Allzu oft sind die von der Vernunft entwickelten Einsichten unklar, dienen vordergründigen Interessen, folgen einer machtpolitischen Ideologie. Angesichts dessen spricht der Papst von der notwendigen Reinigung der Vernunft. Was kann er damit meinen? Keineswegs die Abdankung der Vernunft, keineswegs ihre Bevormundung durch die Glaubenswahrheiten, durch Dogmen oder durch das Papstamt in der Kirche. Vielmehr spricht Benedikt von einer reinigenden Kraft des Glaubens, einer Reinigung, die immer wieder notwendig ist. Die Begegnung mit dem lebendigen Gott im Glauben ist zugleich "eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst".

Die Verblendung, von der die Enzyklika spricht, hat ihren Grund eben in der Versuchung der Vernunft: durch den Opportunismus gegenüber den Mächtigen; durch die eigenen Vorurteile, die aus den eigenen Vorteilen gewachsen sind; durch die Verlockungen der eigenen Eitelkeit; durch die Macht der so genannten öffentlichen Meinung; durch die Sorge, nicht dem Geist der Zeit zu entsprechen. Alle diese Verblendungen machen die Vernunft unfrei, missbrauchen die Kraft der Argumente, und lassen das Erkennen zur Sophisterei verkommen.

Diese Gefahr der Unfreiheit ist der Vernunft nie ganz zu nehmen. Immer sind unsere Argumente auch von subjektivistischen Verzerrungen gefährdet. Das bedeutet nicht deren Ohnmacht und die Behauptung eines absoluten Relativismus.

Die Kraft der Argumente

Aus der Perspektive Gottes, d.h. aus der Perspektive der Wahrheit gewinnen die Argumente ihre Kraft und ihre Freiheit. Der Glaube knechtet demnach nicht die Vernunft, sondern versucht ihre Freiheit zu sichern, bekräftigt ihr eigenes Ziel, nämlich unablässig und in Freiheit nach der Wahrheit selbst zu suchen, der Wahrheit gegen alle Versuchungen treu zu bleiben. Dieses Angebot des Glaubens für die Wissenschaft kann in seiner Notwendigkeit in der Gegenwart kaum überschätzt werden. Die Indienstnahme der Wissenschaft für den wirtschaftlichen Nutzen, für die Zwecke der politischen Macht, ja selbst für die Herrschaft über den Menschen ist nicht zu übersehen.

Das sind keineswegs irreale Spekulationen. Wenn man sieht, wie heute als Kriterium für die Bedeutung der Wissenschaft ihre Nützlichkeit behauptet und politisch durchgesetzt wird; wenn man sieht, wie in Forschung und Lehre das Wahrheitskriterium durch das der Brauchbarkeit ersetzt wird - dann gewinnt das Papst-Wort seine aktuelle Bedeutung.

Denn im Lehren und Lernen geht es um die Einsicht in die Kraft der Argumente, geht es immer auch um den Abbau von Vorurteilen. Wer im Unterricht das Argumentieren der "gereinigten" Vernunft gelernt hat, der weiß, dass Gewalt kein Ersatz für diese ist, der weiß, dass es zur Redlichkeit des Denkens gehört, nicht nur zu behaupten und den anderen zu nötigen, diese Behauptungen auch schon für wahr zu halten - sondern dass die Achtung vor dem anderen von mir fordert, das Behauptete auch zu begründen.

Der Erfolg pädagogischen Handelns zeigt sich deshalb nicht in der Menge abfragbaren Wissens, sondern in einem Denken, das versucht, sich immer wieder von Vorurteilen zu "reinigen", auch von den Vorurteilen über das Maß des eigenen Wissens und Könnens. In diesem Sinne konnte Kant sagen, dass Wissenschaft die enge Pforte ist, die zur Weisheit führt. Er hat mit Wissen sicher nicht das emsige Sammeln von Wissensdaten gemeint, sondern einen Gebrauch der Vernunft, der immer wieder versucht, die eigenen Möglichkeiten zu bedenken, sich ihrer Grenzen, aber auch ihrer großen Möglichkeiten bewusst zu werden, um sich unter "die leitende Beziehung auf Wahrheit" (Kant) zu stellen, von den eigenen Verunreinigungen zu befreien. Die Verbindlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs für eine Kultur der Auseinandersetzung, insbesondere für die Politik, vor allem aber auch für die Wissenschaft selbst, wäre gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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