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Heißes Eisen: Internat

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In vergangenen Zeiten war man gewohnt, im Internatsaufenthalt eine Art Allheilmittel bei Lern- und Erziehungsschivierigkeiten zu sehen. Ohne Zweifel wurden gerade in dieser Hinsicht beachtliche Erfolge erzielt. Dennoch sind diese Anlässe, auch wenn sie bei einem Teil der Zöglinge heute noch vorliegen, nicht die richtigen und wünschenswerten Ausgangssituationen für eine Internatsunterbringung. Internate können und sollen ihrem eigentlichen Sinn nach weder Besserungs- noch Strafanstalten sein. Derartige Mißdeutungen führen immer wieder zur Unzufriedenheit und erwecken falsche Hoffnungen.

Zugegeben, die erste, natürlichste und beste Erziehung ist die der Familie. Aber welcher Familie? Nicht jede vermag aus sich heraus und allein die Erziehungsaufgabe so zu bewältigen, wie es im Interesse der jungen Menschen notwendig wäre, heute weniger denn je. Das ist eine Tatsache, an der alles Jammern, Kritisieren, Anklagen nichts ändert.

Praktisch geht es heute nur im geringeren Teil der Internatsfälle um die Alternative: Familie oder Internat. Diese Fragestellung, einst zweifellos aktuell, ist überholt. Die Unterbringung von Buben und Mädeln in Internaten aus Bequemlichkeit der Eltern oder aus „Tradition“ ist relativ selten geworden. Für die Mehrzahl der Eltern hat der Entschluß, das Kind einem Internat anzuvertrauen, andere Hintergründe.

Unter den Internatsbewerbern lassen sich heute vor allem zwei Hauptgruppen unterscheiden: a) Zöglinge, die höhere oder Fachschulen besuchen wollen, aber in der näheren Umgebung ihres Wohnsitzes kčine haben. Die Internatsunterbringung ist für sie die Voraussetzung zum Besuch dieser Schulen, b) Zöglinge, bei denen Familien Verhältnisse, die keineswegs immer schuldhaft sein müssen, einen Internatsaufenthalt geraten oder notwendig erscheinen lassen. Die Gruppe dieser Zöglinge ist, und das Ist geradezu kennzeichnend, immer mehr im Wach Kn,.3lfc,ist zahlenrolßigldie stärkste

Im Vergleich mit früheren Zeiten und Verhältnissen ergibt sich also eine sehr wesentliche und tiefgreifende Verschiebung, die natürlich nicht ohne Einfluß auf den Aufbau und die Führung der Internate bleiben kann. Methoden und Zielsetzungen müssen sich ja gerade bei erzieherischen Einrichtungen nach den Erfordernissen ausrichten.

Zunächst ist die Gesellschaftsschicht, aus der die Zöglinge in die Internate strömen, eine andere geworden. Während früher vor allem „gut bürgerliche“ Kreise mit einem gewissen Wohlstand sich eine „Institutserziehung“ ihrer Kinder leisteten, sind es heute breitere Schichten der Bevölkerung, Arbeiter, Angestellte, kleine Beamte, die das Gros bestreiten. Selbstverständlich haben sich damit auch die Anforderungen und Wünsche an das Internat gewandelt. Den Eltern geht es heute weniger um eine „höhere“ Erziehung, sondern einfach darum, ihre Kinder geborgen und gut aufgehoben zu wissen, weil sie selbst dazu nicht in ausreichendem Maße in der Lage sind. Das sind zumeist nicht bequeme, sondern vielmehr recht besorgte Eltern, die an ihren Kindern hängen, aber von irgendeiner Notsituation bedrängt werden.

Die ernsthafte Frage der Eltern heißt also heute: Internat oder Sichselbstüberlassensein der Kinder. Nur wer die Bedeutung und Tragweite dieser Situation voll begreift, kann mit gutem Gewissen über Notwendigkeit oder Ueberflüssig- keit der Internate urteilen.

Das Sichselbstüberlassensein der Jugendlichen hat verschiedene Gründe. Letztlich liegt jedoch eine Vereinsamung im metaphysischen Bereich vor. Da von den Eltern keine oder nur geringe Hilfe in der für jeden Menschen entscheidenden Frage nach Zweck und Sinn des Lebens kommt (die sind ja selber weitgehend in einem oberflächlich materialistischen Augenblicksbedürfnis befangen), fühlen sich die Jugendlichen auf sich selbst angewiesen und zurückgeworfen. Sie stehen den auf sie eindringenden Fragen trotz äußerer Selbstüberheblichkeit recht unsicher gegenüber. Weder ihr Intellekt noch ihre Erfahrung reicht zu einer befriedigenden Antwort. Instinktiv fühlen sie sich von den Erwachsenen im Stich gelassen. So gelangen sie einerseits zur Kritik und Ablehnung dessen, was von den Erwachsenen kommt, anderseits zu einer geradezu fanatischen Ueberbetonung der Lebensformen, die sie sich nun selbst geschaffen haben.

Da sind zunächst die jungen Menschen, die immer schon eine Hilfe brauchten, jene aus zerfallenen oder in Auflösung begriffenen Ehen, die Waisen und Halbwaisen, die außer- und unehelichen Kinder. Vor allem aber kommt als Hauptkennzeichen der gegenwärtigen Erziehungssituation die o viel besprochene, von vielen so lautstark abgelehnte, trotzdem aber sich ständig steigernde Berufstätigkeit auch jener Mütter hinzu, bei denen an sich geordnete Familienverhältnisse vorliegen. Hier ist nicht der Platz, diese Frage an der Wurzel zu entscheiden. Tatsache ist, daß heute bei 80 bis 90 Prozent der Internatsbesucher Berufstätigkeit der Mutter gegeben ist. Die Ueberforde- rung der Mütter ist also der entscheidende und hauptsächlichste Grund der Unterbringung ihrer Kinder in Internaten.

Hier setzt nun die zeitgemäße Bedeutung der Internate ein.

Aus der Darstellung der Ursachen, die heute zum Internatsaufenthalt führen, ergibt sieh eigentlich auch schon, was man davon erwartet. Das Internat kann und darf kein Familienersatz sein. Aus dem unrichtig gesehenen Verhältnis zwischen Familie und Internat kann ein ver- hängsnisvoller Fehler entspringen. Mißverständnisse, unerfüllbare Erwartungen und Anforderungen sind ebenso gefährlich wie verständnislose Geringschätzung. Der entscheidende Zweck aller Internate, die nicht primär bloß einer bestimmten Berufsausbildung dienen wollen, sondern in erster Linie soziale und erzieherische Ziele verfolgen, kann nur der sein, der Familie zu dienen und zu ihr hinzuführen. Den überlasteten Eltern soll die Möglichkeit gegeben werden, die Arbeitstage ihrer Woche beruhigt verbringen zu können und dennoch mit ihrem Kind im familiären Kontakt zu verbleiben, und in äußerer und innerer Gemeinschaft. Den jungen Menschen bietet das Internat eine wohldurchdachte, planmäßig geleitete Arbeitszeit, es fördert durch vielerlei Anregungen, durch c as Zusammensein mit den Kameraden die geistige, körperliche und soziale Entwicklung, bewahrt vor nutzlos auf der Straße verbrachten Nachmittagen, hilft eine Menge unguter Konflikte zwischen den überlasteten, nervösen Eltern und ihren, beim abendlichen Zusammensein alles andere als sich rücksichtsvoll gebärdenden Kindern vermeiden.

Dem Grundgedanken, daß die Eltern im Mittelpunkt des erzieherischen Geschehens bleiben müssen, kann das Internat in verschiedener Hinsicht Rechnung tragen. Einerseits wird es die Eltern möglichst in das Internatsleben hineinbeziehen, anderseits die Kinder aber, soweit wie möglich und von den Eltern gewünscht wird, in die Familie entlassen. Vor allem, und das sei besonders betont, sollen die Zöglinge das Wochenende mit ihren Eltern verbringen können. Dieses wöchentliche Zusammensein ist für die Kinder und für die Eltern förderlich, ja bis zu einem gewissen Grad notwendig. Das Kind schöpft neue Freude und Kraft, die frohe Erwartung des nahenden Wochenendes spornt an.

Diese wertvollen Folgen lassen die Nachteile des allwöchentlichen Unterbrechens des Heim- aufenthaltes geringer erscheinen. Immer wieder kann man nämlich feststellen, daß gerade der Heimaufenthalt sichtlich zu einer Stärkung des familiären Lebens führt. Nicht nur das Kind freut sich auf das Wochenende, auch von der Elternseite wird meist alles daraufhin geplant und abgestimmt. Das Zusammensein ist nicht von der nervösen Hast der Berufswoche getrübt, sondern irgendwie entspannt und festlich. Die familiäre Nestwärme bleibt dem Kind erhalten.

Das wöchentliche Zusammensein mit den Eltern bringt aber noch einen anderen, für die seelische Gesundheit des Kindes nicht zu unterschätzenden Gewinn. Die sogenannten „Intemats- komplexe" werden dadurch nahezu völlig vermieden. Das Heimweh ist in einem solchen Internat fast unbekannt. Die Jugendlichen sehen meist die Notwendigkeit des Getrenntseins von den Eltern an Wochentagen ein. Am Samstag und Sonntag finden sie das vertraute und ersehnte Heim.

Die hier kurz dargestellten Gedanken über eine zeitgemäße Heim- und Internatsführung verstoßen vielleicht gegen manche idealisierte Vorstellung oder gewohnte Auffassung über Sinn und Aufgabe dieser Anstalten. Sie haben jedoch den Vorteil einer praktischen Verwertbarkeit und vor allem einer sinnvollen Anpassung an vorhandene Bedürfnisse.

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