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Helvetias Pressen laufen anders

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Die Landesfarben der Schweiz sind Rot und Weiß. Bezogen auf die traditionelle Schweiz, bin ich versucht, diesen Farben die folgende (zugegebenermaßen höchst unwissenschaftliche) Deutung zu geben: Der Eidgenosse läuft rot an aus Scham, wenn er als Musterknabe ausländisches Lob vernimmt, und er wird weiß vor Ärger, wenn der Ruf seines Mustervaterlandes in Frage gestellt wird. Was nicht hindert, daß letzteres seit einiger Zeit häufiger als früher zu registrieren ist.

Das gewandelte Image

Weniger (Eigen-)Lob und mehr (Selbst-)Kritik an Helvetia — in diese Stichworte kann ein Wandel des „Image“ der Schweiz zusammengefaßt werden, in welchem sich nicht nur Veränderungen der Stellung und Geltung der Eidgenossenschaft in der Umwelt manifestieren, sondern auch eine Strukturwandlung, eine tiefgreifende Evolution des Selbstverständnisses der Schweiz ankündigt. Das „Image“ der Schweiz ändert sich also in einem zwiefachen Sinne: das Urteil über die Eidgenossenschaft wandelt sich ebenso wie das Selbstverständnis der Eidgenossen. Und da im Begriff des Image — das man als Summe der Vorstellungen bezeichnet hat, die man von jemandem oder von einer Sache hat — neben dem rationalen auch ein emotionales Element enthalten ist, weil m. a. W. in diesem Begriff das Logische oft vom Psychologischen überdeckt ist, liegt es nahe, daß sich schweizerisches Image und schweizerische Wirklichkeit nicht zu decken brauchen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, die Übereinstimmung von Vorstellung und Realität herzustellen. Die schicksalhafte Bedeutung, die das Image der Schweiz für die Idee der Schweiz hat (und umgekehrt!), macht eine Lösung dieser Aufgabe denjenigen zur Pflicht, die in und außerhalb der Landesgrenzen an der Meinungsbildung der Schweizer über ihr Land und des

Auslandes über die Schweiz beteiligt sind. Es sind dies vor allem die in Schlüsselpositionen der Massenmedien stehenden Presse-, Radio- und Fernsehleute. Sie konstatieren den Wandel des Image ihres Landes tagtäglich. Und sie vollziehen selber diesen Wandel in Radio, Television und Presse mit. Wenn ich daher heute in der Geburtstagsnummer der „Furche“ zu Wort kommen darf, so möchte ich einige Entwicklungstendenzen und Strukturwandlungen aufzeigen, die in der helvetischen Presse im Gange sind.

Solidität und Sensationsjournalistik

Tatsächlich wird der Wandel, der sich im Selbstbildnis der Schweiz immer deutlicher konturiert, kaum irgendwo so sinnenfällig wie im Wandel des „Gesichtes“ der Schweizer Zeitungen. Und auch hier, in der Presse, ist der äußerliche Gestaltwandel Symptom und zugleich Folge eines Gehalt- und Haltungswandels. Die schweizerische Entwicklung folgt in diesem Punkte einem allgemeinen, in allen westeuropäischen Ländern festzustellenden Trend. Er sei mit ein paar wenigen Stichworten lediglich angedeutet: Vordringen des Bildes auf Kosten des Wortes, des Kurzkommentars auf Kosten des Leitartikels, der Glosse auf Kosten der besinnlichen Betrachtung, der Schlagzeile und der Aktualität auf Kosten der prinzipiellen Auseinandersetzung. Zurückdämmung der Parteipolitik und der Polemik zugunsten des freien Gesprächs über alle Schranken hinweg, Prädominanz der Information vor dem Kommentar usw. Daß die vermehrte „Farbigkeit“ (im wörtlichen und im übertragenen Sinne) ausgerechnet von den farblosen, das heißt neutralen Blättern gepflegt und forciert wird, ist ebenfalls keine schweizerische Exklusivität. Dagegen dürfte die Schweiz insofern einzig dastehen, als sie immer noch mit einer einzigen, auf niedrige SensationsJägerei bedachten Boulevard-Tageszeitung „auskommt“. Es ist dieses lichte Bild allerdings im Interesse der Wahrheit dahin zu präzisieren, daß dieses Blatt in den wenigen Jahren seines Bestehens sich an die erste Stelle in puncto Auflage vorgearbeitet hat und daß sein Stil in einigen neutralen Blättern der französischen Schweiz mehr oder weniger offen imitiert wird. Wobei das Bestreben zu erkennen ist, den unmöglichen Kompromiß zwischen schweizerischer Solidität und moderner Sensationsjou'-iali-stik zu suchen.

Die Pressekonzentration...

Neben diesen Änderungen in Gehalt und Gestalt teilt die Schweizer Presse mit derjenigen des übrigen Europa auch den Trend zur Konzentration, auch wenn er hier widerstrebender vollzogen wird als etwa in England, Skandinavien und Frankreich. Das hat seinen Grund vor allem in zwei Tatsachen: Zum ersten ist die Regional- und Lokalpresse — die Schweiz ist ja das Land der ländlichen Zeitungen — hier noch sehr häufig in den Händen von Familienunternehmungen, was einen Schutz gegen die Konzentrationsund Monopoltendenzen bietet. Zum andern stehen einer unbedachten vom rein Kaufmännischen her forcierten Zentralisierung zwei schweizerische Grundgegebenheiten politischer Art entgegen: erstens der Föderalismus und zweitens die direkte Demokratie. Beide erfordern, soll der Prozeß der Meinungsbildung unverfälscht ablaufen, eine dezentralisierte politische Presse — oder positiv ausgedrückt: sie setzen der Konzentration natürliche Grenzen und empfehlen an ihrer Stelle die politisch adäquatere Form der Kollaboration gleich oder ähnlich gerichteter Blätter, die nicht in Konkurrenzposition zueinander stehen.

Die Kostenexplosion im Zeitungsdruckereibetrieb, die zur Hauptsache durch die technische Revolution der Setzerei und der Nachrichtenübermittlung und durch die Erfordernisse der Konkurrenzfähigkeit gegenüber den anderen Massenmedien bedingt ist, macht allerdings die technische und redaktionelle Zusammenarbeit immer mehr zu einem Gebot der Existenzsicherung vor allem der Gesinnungs- und Standortpresse gegenüber der Boulevard-und Marktzeitung. Das zunehmende politische Desinteressemenit, die Entideologisierung der Politik und die ökumenische Gesinnung breiter Volkskreise haben zusammen ein übriges getan, um die Meinungspresse und insbesondere die Parteapresse gegenüber den „Neutralen“ ins Hintertreffen geraten zu lassen. Heute hat sie Versäumtes aufzuholen. Einzelne Blätter, welche Anstrengungen, Kosten und Risiken nicht scheuen und die der Zusammenarbeit und Kostenteilung hinderlichen Prestigevorstellungen über Bord werfen, erzielen ermutigende Fortschritte. Die anderen stagnieren und laufen Gefahr, von nationaler zu bloß regionaler beziehungsweise von regionaler zu bloß lokaler Bedeutung abzusinken. Es ist ein Prozeß der natürlichen Auslese nach Leistungsfähigkeit und Aufgeschlossenheit in vollem Gange.

...birgt für die Schweiz zusätzliche Gefahren

Das Zeitungssterben ist in der Schweiz, die an dem in unfruchtbaren Partikularismus entarteten „Embarras de richesse“ passiver Blätter leidet, nicht durchweg von Übel. Dank dem stark aufgekommenen „Kopfblattsystem“, das heißt, der Übernahme des „Mantels“ (des allgemeinen Teils) einer größeren Tageszeitung, ist es manchen Bezirksblättern gelungen, sich ein zeitgemäßes „Image“ zu geben und in ihrem ureigentlichen Bereich, im Lokal- und Regionalteil, wo mit ihnen weder die großstädtische Tageszeitung noch Radio und Fernsehen konkurrieren können, voll leistungsfähig zu werden. Hier liegt auch, staatspolitisch betrachtet, die Lösung, welche die Gefahren einer uniformierten und monopolisierten Presse vermeiden läßt. Die Erhaltung einer relativ großen Zahl unabhängiger Blätter mit eigener profilierter Meinung ist ein Garant für das Funktionieren der direkten und föderalistischen Demokratie, auf den nicht verzichtet werden kann.

Die Tatsache, daß diese Unabhängigkeit heute von geschäftlichen und Gruppeninteressen von außen wie von innen bedroht wird, erhärtet das alte1 Journalistenwort, daß die Pressefreiheit ein Stuhl ist, auf dem man stets sitzen bleiben muß, damit er einem nicht weggezogen werden kann. Diese Freiheit und Unabhängigkeit zu wahren, ist das Kernstück des journalistischen und verlegerischen Berufsethos. Es hat seinen Niederschlag beispielsweise im Artikel der Statuten des Vereins der Schweizer Presse gefunden, der bestimmt, daß die Wahrung der Würde, Freiheit und Unabhängigkeit der Schweizer Presse oberstes Ziel der Berufsorganisation der Schweizer Journalisten sei. Um so peinlicher war das Erstaunen der Öffentlichkeit — und der Mehrzahl der Journalisten selber! —, als die Delegiertenversammlung des Vereins jüngst im Zug der Vergewerk-schaftung des Vereins beschloß, daß künftig auch kommunistische Journalisten in den Verband aufgenommen werden sollen. Es ist wohl nicht Zufall, daß dieser Antrag von Genf aus gekommen ist und von den Westschweizer Sektionen des Verbandes geschlossen unterstützt wurde. Das Image der Schweiz und der Schweizer Presse wird dort am konsequentesten zu ändern getrachtet — wobei der Veränderungswille weit über das hinausgeht, was man durch „Make-up“ erreichen kann; man arbeitet vielmehr mit allen Mitteln der Gesichtschirurgie. Auch auf das Risiko hin, daß solcherart eine Kluft aufgerissen wird. Die Gefahr, daß sich progressistische und statische Kräfte auseinanderleben, ist bis ins katholische Presselager (wenn man noch von „Lager“ reden will) spürbar.

„Progressisten“ und „Konservative“

Wer unterschwellige Tendenzen rechtzeitig zu erkennen vermag, kann nicht mehr übersehen, daß in der Schweizer Presse — die darin Ausdruck, Lebensgefühl und der Stimmungslage im Volke ist — immer härter zwei Tendenzen aufeinanderprallen: diejenigen, die dem sogenannten Progressismus und allem, was er unter „unsere Zukunft“ subsummiert (ohne es kon-turieren zu können) zum Durchbruch verhelfen will, und die andere, die diesen Wagemut als eine Abenteuerfahrt ins Ungewisse empfindet und fürchtet, mit dem überholten Alten werden auch überzeitlich gültige Prinzipien, ja jeglicher Halt preisgegeben. Auch innerhalb der katholischen Presse wird dieser Gegensatz immer offenkundiger. Wobei unseres Erachtens das Bedenkliche nicht darin besteht, daß sich die beiden Tendenzen auswirken und messen, sondern daß das Gespräch zwischen ihnen verstummt. Man ist als fortschrittlich Gesinnter, der einen aufgeschlossenen und gesprächsfähigen Konservativismus für einen unentbehrlichen Beitrag an die Gestaltung der Zukunft erachtet, versucht auszurufen: Macht mir die Mitte stark!

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