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Digital In Arbeit

Herzflattern durch die Flimmerkiste

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Der Fernseher ist aus dem Alltag von Kindern nicht mehr wegzudenken. Das Überangebot der TV-Sendungen macht es für die Eltern aber schwierig, das Richtige auszusuchen.

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Der Fernseher ist aus dem Alltag von Kindern nicht mehr wegzudenken. Das Überangebot der TV-Sendungen macht es für die Eltern aber schwierig, das Richtige auszusuchen.

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Machen wir ihn kalt!”, rief ein Bub und stürzte sich mit seinen Freunden auf ein wehrloses Kind. „Als ich das hörte, ist mir ganz anders geworden”, erzählt eine Kindergärtnerin in einem Gespräch mit ihren Kolleginnen über die Fernseheinflüsse ihrer Schützlinge. Das Thema Fernsehen löst sofort eine heftige Diskussion aus. „Bei mir”, erzählt eine andere Kindergärtnerin, „schaut ein Viereinhalbjähriger den ,Stockin-ger' an”.

In einer anderen Kindergarten-grappe würden Fünf- bis Sechsjährige „Kommissar Rex” ansehen. „Ich denke, daß viele Eltern Angst haben, daß sie die Gunst ihrer Kinder verlieren, wenn sie ihnen das Fernsehen verbieten”, meint eine andere Kindergärtnerin.

Während Vorschulkinder häufig noch ihre Lieblingsprogramme im heimischen Fernsehen ansehen, bewundern beispielsweise die Schüler einer ersten Klasse Hauptschule ihre TV-Helden bereits im SAT. „Als ich in einer Freistunde mit meinen Schülern über das Fernsehen sprach, sprudelte es aus ihnen nur so heraus. Und ich hatte den Eindruck, daß sie dringend jemanden brauchen würden, der mit ihnen über die Sendungen spricht”, erzählt ihre Lehrerin.

Stundenlanger Fernsehkonsum

Bei einem Elternsprechtag spricht die Lehrerin mit den Eltern über die Fernsehgewohnheiten ihrer Kinder. Einige Eltern geben zu, daß ihre Kinder mindestens drei bis fünf Stunden täglich schauen. Meist seien ihre Kinder allein ihrem „Fernsehschicksal” überlassen. Aber fast alle Eltern sind der Meinung, daß die Fernsehstatio-' nen keine kindergerechten Sendungen bringen.

Das Überangebot des „TV-Supermarkts” macht es den Eltern schwer, gemeinsam mit ihren Kindern die passenden Sendungen in den richtigen „TV-Regalen” auszuwählen. Noch schwieriger ist es, wenn die Kinder in ihrer Auswahl allein gelassen werden und in ihren „TV-Einkaufs-wagerln” auch Sendungen mit Gewalt und Sexualität sind.

„Werden meine Mama und mein Papa mich töten?”, fragte ein Volksschulkind seinen Lehrer. Schon seit einiger Zeit fiel ihm auf, daß es verstört wirkte und Daumen lutschte. Im Gespräch mit den Eltern stellte sich heraus, daß das Kind eine Fernsehsendung über ein behindertes Kind ansah. Dessen Eltern meinten in der Sendung, es wäre besser gewesen, wenn ihr Kind gleich nach der Geburt gestorben wäre.

Aus dem Blickwinkel des Volksschulkindes hatte das behinderte Kind in dieser Sendung aber in kein-ster Weise anders ausgesehen als andere Kinder. Daher war es für dieses Volksschulkind unbegreiflich, daß die Eltern ihrem Kind den Tod wünschten.

Mit diesem Beispiel verdeutlicht Michael Miliner, Leiter der Arbeitsgruppe Kinderneuropsychiatrie an der Klinik Graz, daß Kinder das Fernsehen oft ganz anders wahrnehmen als Erwachsene. Von vornherein sei das Fernsehen nicht schlecht. Doch „in der kinderpsychiatrischen Ambulanz der Kinderklinik Graz sehen wir zunehmend Kinder, deren Störungen unzweifelhaft mit einem TV-Mißbräuch in Zusammenhang stehen”, betont Dozent Miliner. Der Mißbrauch des elektronischen „Guckkastls” könne für Kinder eine Reihe von Störungen verstärken wie Aufmerksamkeitsschwächen und Teilleistungsschwächen beim Rechnen, Schreiben, Lesen und bei motorischen Fähigkeiten, unterstreicht er. Wenn die psychische Belastung des Gesehenens zu groß sei, könnten Kinder auch unter Angstzuständen leiden.

Und eventuell habe dies auch zur Folge, daß das Kind auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückfalle. Die Angst könne sich dabei auch als Depression oder Aggression des Kindes verstecken. Es käme aber auch vor, daß sich die Angst in körperlichen Beschwerden verpuppe. Schließlich könne es infolge der psychischen Belastung auch zu Schlafstörungen kommen.

Störung der Persönlichkeit

„Extremes Vielfernsehen kann auch die Entwicklung der Persönlichkeit stören” fügt Miliner schließlich hinzu. Denn Zurückhaltung, Entgegenkommen, Geduld, sich in eine Gruppe einfügen und sich in die Lage von jemanden zu versetzen, könne das Kind nicht in dieser „zweiten Realität” lernen, in der es sich während des Fernsehens befindet. Das Kind könne soziale Vorgänge nicht vom Fernseher „abschauen”, sondern nur im realen, sozialen Umfeld lernen.

Sollen Sendungen für Kinder zensuriert werden? Sind sie dadurch vor TV-Mißbrauch geschützt? Im Jänner 1997 ist es in den Vereinigten Staaten soweit: Dann können Sendungen, in denen Gewalt und Pornographie vorkommen, durch einen Mikrochip zensuriert werden. Technisch kein Problem: Fernsehtechniker bauen den Mikrochip direkt in den Fernseher ein. TV-Produzenten, Delegierte der Sender und Kabeltreiber eines eigens dafür eingerichteten Gremiums versehen TV-Sendungen mit Altersempfehlungen. Der Chip ist in der Lage, dieses „Rating” elektronisch zu lesen. Wenn die Eltern in die Fernbedienung die Alterskategorie sechs eintippen, dann werden alle anderen Sendungen, die nicht für dieses Alter programmiert sind, blockiert. Genannt wird der Chip auch V-Chip: Das V steht für violence (Gewalt).

Noch gibt es bezüglich eines V-Chips keine verbindliche Empfehlung des Europaparlaments. In Frankreich hingegen sprachen sich die Verantwortlichen des staatlichen Medienkontrollrates CSA gegen einen V-Chip aus, da dies die Verantwortung von TV-Stationen und Eltern herabsetze. RTL und Grundig stellten 1993 in Deutschland einen V-Chip vor. Heute sind die meisten deutschen Geräte mit einer Zuschauersperre versehen.

„Ob's nicht der handfeste Schlüssel eines Schrankes, in dem der Fernseher versperrt ist, auch tut”, meint eine Psychotherapeutin eines Institutes für Kinder- und Jugendpsychologie in Graz. „Der V-Chip geht am eigentlichen Problem vorbei”, meint ihr Kollege, „es ändert sich nichts.” Es würde bei TV-Sendungen nicht nur um die Vermeidung von Gewalt gehen. Immer mehr Kinder seien schon in dieser Scheinwelt des Fernsehens zu Hause, die sie emotionell so sehr in Anspruch nehme, daß sie nicht mehr die Kraft hätten, das, was wirklich geschieht, zu verarbeiten. „Das Kind erkennt sehr rasch, daß es mit dem Fernseher seine Gefühle blitzartig verändern kann”, ergänzt seine Kollegin. Denn für Kinder sei es häufig leichter, die Flimmerkiste aufzudrehen, um vor schwierigen familiären Situationen zu flüchten, als sich in der Realität mit ihnen zu konfrontieren.

Für die Psychologin Carola Ploner-Strobel aus Graz ist der V-Chip „ein Zeichen dafür, daß man alles abgibt”. Die Eltern würden sich ihrer Verantwortung entziehen, die passenden Fernsehsendungen mit ihren Kindern auszuwählen. Auch könne man nicht die gleichen Regeln für alle Kinder aufstellen: „Es kann sein, daß ein Kind gerade eine Phase hat, in der es in einem bestimmten Bereich sehr sensibel ist und deshalb auch Sendungen, die für seine Altersempfehlungen angegeben sind, nicht ansehen sollte”, meinte Frau Ploner. „Außerdem”, stellt sich Frau Ploner die Frage, „wer programmiert eigentlich den V-Chip?”

Das Fernsehen will gelernt sein. Darin sind sich Psychologen, Lehrer, Kindergärtnerinnen und Ärzte einig. „Schon für Kleinkinder ist das Spielen, während der Ton des Fernsehers läuft, nicht zu empfehlen ”, betont Dozent Miliner von der Grazer Kinderklinik. Vor allem beim Einschlafen sollten sie den Ton des TV-Gerätes nicht hören. Ein kleiner Tip: Eltern können am Abend mit Kopfhörern ihrem Fernsehabend frönen.

Der Fernseher sei kein Rabysitter. Deshalb wäre es besser, wenn das Fernsehen bei Kindern bis zu drei Jah -ren vermieden werden würde. Kinder bis sechs Jahre sollten nur ausnahmsweise, Sechs- bis Neunjährige maximal eine halbe Stunde und Neun- bis Zwölfjährige maximal eine Stunde pro Tag fernsehen. Bis zum Alter von neun Jahren wäre es gut, wenn die Kinder nicht regelmäßig fernsehen würden. Und besonders Vorschulkinder sollten nicht allein vorm Fernseher sitzen.

„Fernsehen bei Oma” kann gefährlich sein

„Fremdfernsehen” bei Oma, Onkel oder Nachbarn sei ebenso nicht zu empfehlen, wie ein Beispiel Dozent Miliners zeigt: Die Eltern kamen mit ihrem fünfjährigen Kind in die Klinik. Das Kind hatte panikartige Angstzustände mit Gesichtsrötung, Zittern und Schweißausbrüchen. Einmal sagte es, nicht sterben zu wollen, ein anderes Mal glaubte es im Turn-sackerl „Spinnenfutter” zu sehen. Es zog sich zurück und spielte nur mehr mit seinen Stofftieren, die es gegeneinander schlug, während es vor sich hin murmelte. Seine Sprache wurde unverständlich und fragmentarisch. Erst als seine siebenjährige Schwester am Abend vor dem Einschlafen Angst bekam, da sie „immer aussätzige Gesichter sah”, kam der Verdacht eines TV-Mißbrauchs auf, der sich auch bestätigte: Die Kinder sahen in einer Wohnung der Oma, in Abwesenheit der Eltern, Satelliten-TV. Nach acht Wochen absoluter TV-Karenz waren beide Geschwister wieder psychisch unauffällig.

Warum nicKt Fernsehregeln aufstellen? Welche Sendungen ausgewählt werden, soll im Familienplenum besprochen werden. „Es würde zu weniger Konsum und mehr Kreativität führen ”, meint die Psychologin Ploner-Strobl.

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