"Hey, schaut doch auf eure Begabungen!"

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"Das Problem ist, dass wir generell zu wenig Feedback bekommen. Und die meisten glauben auch, dass sie besser sind als der Durchschnitt - was statistisch natürlich nicht stimmen kann."

Seit 30 Jahren erforscht Aljoscha Neubauer die individuellen Unterschiede bei kognitiven, sozialen und kreativen Begabungen -und deren neurowissenschaftliche Grundlagen. In seinem neuen Buch plädiert der Leiter des Instituts für Differentielle Psychologie an der Uni Graz dafür, bei der Berufswahl verstärkt die eigenen Potenziale und nicht nur die Interessen in den Blick zu nehmen. DIE FURCHE hat ihn zum Interview gebeten.

Die Furche: Sie schreiben, dass viele Menschen einen Beruf wählen, der sie zwar interessiert, für den sie aber nicht wirklich begabt sind. Wie häufig kommt eine solche "Nicht-Passung", ein Mismatch vor?

Aljoscha Neubauer: Es gibt hier natürlich viele Graubereiche -dass etwa jemand für etwas nicht ganz unbegabt ist, aber in anderen Bereichen noch deutlich begabter wäre. Aber wir gehen auf Basis unserer Daten davon aus, dass es bei rund zehn bis 15 Prozent einen deutlichen Mismatch gibt und bei 15 bis 20 Prozent nicht optimal passt. In Summe sind das also etwa 30 Prozent.

Die Furche: Was heißt eigentlich "begabt sein" - im Unterschied zu "talentiert" sein?

Neubauer: Eine Begabung ist ein - latentes - Potenzial für einen bestimmten Bereich, wobei es hier in aller Regel einen genetischen Einfluss gibt. Beim Talent hingegen geht es darum, wie jemand seine Begabung umgesetzt hat. Nach dem Modell von François Gagné, das ich selbst adaptiert habe, führt eine Begabung nur dann zum Talent und wird nur dann in tatsächlich beobachtbare hohe Leistungen umgesetzt, wenn bestimmte Katalysatoren wirken: intrapersonale wie Motivation oder Persönlichkeitsmerkmale - und Umweltkatalysatoren wie Vorbilder, Mentoren, Gelegenheiten oder Zufälle.

Die Furche: Ihre generelle These ist, dass die Begabung (Eignung) für den beruflichen Erfolg eine größere Rolle spielt als Persönlichkeit und Interessen (Neigung). Aber was ist beruflicher Erfolg eigentlich?

Neubauer: Wir unterscheiden hier zwei große Erfolgsindikatoren: Zum einen gibt es objektive Indikatoren, etwa Gehalt oder Hierarchieposition. Zum anderen gibt es subjektive Indikatoren, vor allem die Arbeitszufriedenheit. Wobei diese zwei Gruppen nicht so eng zusammenhängen, wie man meinen könnte, sie korrelieren nur moderat. Tatsächlich ist es zwar so, dass Begabungen eher mit dem objektiven Erfolg und Interesse sowie Persönlichkeit eher mit dem subjektiven Erfolg zu tun haben. Aber insgesamt hängt laut Metaanalysen die Eignung deutlich mehr mit dem Berufserfolg zusammen als persönliche Neigungen.

Die Furche: Könnte man das nicht auch so interpretieren, dass Leute, die im Beruf glücklich werden wollen und denen Karriere nicht so wichtig ist, sich im Zweifel doch lieber an ihren Interessen und ihrer Persönlichkeit orientieren sollen?

Neubauer: Das kommt auf die persönlichen Werte an. Ich sehe das aber insgesamt nicht als Alternativen, die sich ausschließen, sondern es geht darum, das klassische Denken aufzubrechen und zu sagen: Hey, schaut doch mal, wo eure Begabung wäre! Könnte man hier nicht ein Interesse entwickeln -etwa durch ein Praktikum oder das Schnuppern in Vorlesungen? Es gibt so viele Berufe, in denen man auch schräge Interesse-Begabungs-Kombinationen verbinden könnte. Und vielleicht käme die eine oder andere Frau darauf, dass sie eine große räumliche Begabung hat und ihr durch ein technisches Studium die Welt offenstehen würde. Mein Plädoyer lautet daher, sich anzusehen, wofür man wirklich begabt ist, was einen interessiert, was der Persönlichkeit entspricht -und dann einen Beruf zu wählen, bei dem es möglichst große Überlappungen gibt.

Die Furche: Begabung zu testen ist aber nicht so einfach - schließlich reicht die Palette von der sprachlichen, logisch-mathematischen und räumlichen Begabung, die Sie unter "Intelligenz" subsumieren, bis zur intrapersonalen oder ästhetischen Begabung. Wie kann man diese Potenziale eruieren?

Neubauer: Die rein kognitiven Begabungen haben sicher den großen Vorteil, dass man sie viel besser messen kann, IQ-Tests haben ja schon eine 100-jährige Geschichte. Unser Team im Arbeitsbereich Differentielle Psychologie hat nun mit dem DIPS-Modell ein wesentlich breiteres Modell entwickelt, bei dem wir in Berufsdatenbanken danach gesucht haben, welche Kompetenzen man für den jeweiligen Beruf mitbringen sollte.

Die Furche: Auch "Persönlichkeit" ist ein breiter Begriff. Kann man das überhaupt kategorisieren?

Neubauer: Man kann hier etwa die "Big Five" unterscheiden: Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, emotionale Stabilität und intellektuelle Offenheit. Wobei es keineswegs so ist, dass die "Idealpersönlichkeit" aus diesen Merkmalen für jeden Job passt. Am markantesten ist das bei der Verträglichkeit oder Umgänglichkeit: Es gibt Jobs, wo hier eine hohe Ausprägung wünschenswert ist - aber in Führungspositionen kann ein zu freundliches Wesen auch hinderlich sein.

Die Furche: Sie wünschen sich insgesamt mehr Begabungstests und Berufsberatung - auch deshalb, weil die meisten ihre Potenziale und Persönlichkeit erstaunlich schlecht einschätzen können. Woran liegt das?

Neubauer: Das Problem ist, dass wir generell zu wenig Feedback bekommen -sei es von Freunden, die einen nicht verletzen wollen, oder von Arbeitskollegen und Vorgesetzten. Auch Führungskräfte erhalten zu wenig Rückmeldung: Das führt zum bekannten Phänomen, dass sie so lange aufsteigen, bis sie definitiv überfordert sind. Außerdem neigen wir dazu, positives Feedback zu generalisieren und negatives zu bagatellisieren. Es gibt auch den "Above Average"-Effekt: Die meisten Menschen glauben, dass sie besser sind als der Durchschnitt -was statistisch natürlich nicht stimmen kann. Bei Autofahrern wurde das zigfach nachgewiesen. Und dann gibt es noch den "Dunning-Kruger-Effekt": Die Selbstüberschätzung schlägt demnach dort besonders stark zu, wo man besonders schwach ist. Dort, wo man mittelmäßig ist, kann man sich deutlich besser einschätzen.

Die Furche: Feedback und Begabungsförderung sind auch an Schulen schwierige Themen. Teilen Sie die Kritik, dass noch immer zu sehr auf die Schwächen und zu wenig auf die Stärken der Kinder eingegangen wird?

Neubauer: Absolut! Wir bräuchten eine deutlich stärkere Fokussierung auf die Potenziale der Schülerinnen und Schüler. Wobei es umgekehrt keine Entschuldigung dafür geben darf, dass man die grundlegenden mathematischen oder sprachlichen Kompetenzen vernachlässigt. Gerade die sprachlichen Defizite erkennt man selbst besonders schwer, wie wir festgestellt haben. Aber insgesamt braucht es sicher mehr Begabungsförderung. Dass das auch in der Pädagoginnenbildung neu nur am Rande vorkommt, ist ein Problem. Auch die Berufsberatung müsste ausgebaut werden.

Die Furche: Und was würden Sie Eltern punkto Begabungsförderung empfehlen? Immer mehr Stimmen warnen ja auch vor Überehrgeiz...

Neubauer: Das Wichtigste ist, dass man vieles anbietet -ohne wie die berühmten Helikoptereltern zu viel zu verlangen und die Kinder unter Druck zu setzen. Letztlich geht es im Sinne der Neuropädagogik darum, sensibel zu beobachten, worauf jemand besonders anspricht. Das hat dann auch im Gehirn leicht Platz.

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