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I. Die Umweltverhältnisse der niederösterreichischen Schulkinder

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Bis vor einigen Jahren waren die Vaterwaisen des zweiten Weltkrieges eine allgemeine Erscheinung in den Schulen. Diese Kriegerwaisenkinder sind nur noch im letzten Schuljahr anzutreffen. Sie betragen aber immerhin noch 1,6%. Hingegen sind die Mutterwaisen mit 0,4% und die Vollwaisen mit 0,1% errechnet worden. Das Fehlen des Vaters macht sich sehr oft in der Erziehung fühlbar. Die Autorität und das gute Beispiel des Vaters fehlen, was zu erziehlichen Fehlentwicklungen führt.

Der Krieg und seine ungünstigen Folgeerscheinungen brachten viele Ehescheidungen. Am schwersten leiden darunter die Kinder. Das Familienleben ist, wenn man die Ehescheidungen als Maßstab nimmt, bei den Bauern am besten, denn dort kommt auf 200 Ehen nur eine Ehescheidung. Freilich ist in keinem Beruf die Ehescheidung so schwierig, denn im allgemeinen herrscht im Bauernstände die Gütergemeinschaft vor, und die vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen machen Ehescheidungen in bäuerlichen Kreisen zu schwerwiegenden Problemen; daher dürfen die Ziffern über den Geist, der in den Familien herrscht, nicht hinwegtäuschen.

Die Scheidungsziffern sind bei den Angehörigen der freien Berufe am höchsten. Sie betragen bei den Angehörigen der freien Berufe mit Matura 6,9% und bei solchen ohne Matura ,5,2%. Eine Uebersicht über die Berufe der geschiedenen Eltern von Schulkindern gibt fol gende Aufschlüsse:

Die meisten der in der Tabelle angeführten Kinder stammen aus dem Industrieviertel 44,6%. Auf das Mostviertel entfallen 19,1%, auf die Umgebung Wiens 15,7%. auf das Waldviertel 14,3% und auf das Weinviertel6,2%.

Die berufstätige Frau ist eine Zeiterscheinung. Dadurch trat auch eine Wandlung im Familienleben ein. Auf dem Lande ist diese Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten wie in der Großstadt, weil die Verdienstmöglichkeiten nicht so günstig liegen. Abgesehen von der Führung des Haushaltes, arbeitet mit wenigen Ausnahmen auch die Frau in der bäuerlichen Wirtschaft mit. Und drei Fünftel aller Frauen arbeiten ebenfalls im Geschäft oder in der Werkstatt des Mannes mit. Der Landesdurchschnitt der Doppelverdiener erreicht in Niederösterreich 44,2% In 7 von 100 Fällen muß die Mutter selber für den Unterhalt des Kindes

Die trüben sozialen Verhältnisse, besonders auf dem Gebiete der Wohnraumbeschaffung und der Haushaltsgründung, zeigen sich im hohen Prozentsatz der unehelichen Kinder. Landwirtschaftliche Arbeiterinnen, Hilfsarbeiterinnen, Kriegerwitwen und andere kleine Lohnempfängerinnen weisen die erschreckend hohen Prozentsätze von 15 bis 18 an unehelichen Geburten auf. Im Bauernstand würden die 3% an unehelichen Geburten sicherlich geringer werden, wenn die Uebergabe des Bauernhofes früher erfolgte. In allen jenen Bauernfamilien, die dem Sohne rechtzeitig die Wirtschaft übergeben haben, zeigen sich auf allen Gebieten Vorteile. In den meisten Fällen sind die Großeltern noch rüstig, so daß sie in der Wirtschaft mitarbeiten und in der Zeit der großen Not an landwirtschaftlichen Arbeitskräften dem Hofe wertvolle Hilfe leisten. Wenn die Großeltern nicht mehr arbeiten können, sind die heranwachsenden Kinder, deren Betreuung zum guten Teil auch in den Händen der Großeltern liegt, bereits so weit, daß sie selber in der Wirtschaft mithelfen können. In allen Fällen, wo die Eltern erst übergeben, wenn sie alt sind und nicht mehr arbeiten können, leidet darunter die Wirtschaft, weil es meistens an Arbeitskräften mangelt. Dj Bäuerin .laicht unpr, der schwere Arbeitslast fast zusammen. Die Leidtragenden sind die Kinder, weil die Eltern für die Erziehung der Kinder nur wenig Zeit haben. Noch im Schulalter müssen die Kinder oft vollwertige Arbeitskräfte ersetzert, und für Spiel und Freizeit bleibt solchen Bauernkindern nur der Sonntag übrig.

Die unehelichen Kinder und viele Waisenkinder wohnen bei Großeltern, Verwandten, Pflegeeltern, in Heimen und auch bei sogenannten „Tanten“ und „Onkeln“. Die folgende Uebersicht gibt über die 5,3% der Kinder, denen es meistens nicht vergönnt ist, bei den Eltern zu leben, näheren Aufschluß.

meist sind es uneheliche Kinder — aufkommen. Interessant ist, daß im Waldviertel 92,3%, im Mostviertel 91,3%, im Weinviertel 77,1% und in der Umgebung Wiens nur noch 46,6% der Bäuerinnen neben der Hauswirtschaft noch in der Wirtschaft mithelfen. Dieses starke Abfallen der Mithilfe in den Wirtschaften in der Umgebung Wiens und im Weinviertel hat folgende Gründe: Es sind einmal größere Wirtschaften vorhanden, in denen die Frau mit der Hauswirtschaft ohnehin überlastet ist. Weiters sind viele Weinhauerbetriebe darunter, die keinen Viehbestand mehr haben. Auch der Einfluß der Großstadt Wien änderte in mancher Beziehung die Stellung der Frau. Viele Frauen verrichten auf dem Lande zur Zeit der Arbeitsspitzen in der Landwirtschaft Gelegenheitsarbeiten, die aber in der nachstehenden Ueber- sicht nicht aufscheinen.

Die berufstätige Frau schuf auch das Problem der „Schlüsselkinder“. Wenn solche Kinder aufstehen, sind Vater und Mutter bereits in der Arbeit, und das Kind muß das vorbereitete Frühstück oft auch das Mittagessen aufwärmen, manchmal auch selbst zubereiten und dann die Wohnung absperren. Solche Schlüsselkinder findet man bei Angestellten 13,5%, Hilfsarbeitern 10,4%, Rentnern, Kriegerwitwen 9,5%, Facharbeitern 8,3%, landwirtschaftlichen Arbeitern 7,2%.

Auch die Weingartenarbeit verlangt sehr oft die Mithilfe der Mutter, so daß 10% der Kinder im Weinviertel die Wohnung absperren müssen. Die starke berufliche Beanspruchung bringt es mit sich, daß höchstens an einem Sonntag die ganze Familie das Essen gemeinsam einnimmt. Bei den landwirtschaftlichen Arbeitern wird nur in jeder 5. Familie das Frühstück noch gemeinsam verzehrt. In den Familien der Akademiker und der Bauern ist dies bereits in jeder 2. Familie der Fall. In den übrigen Berufskreisen kommt dies nur noch in jeder 3. bzw. 4. Familie vor? Mit deni: Mittagessen ist es- zwar etwas besser, doch die ungleichen Schulzeiten sind vielfach ein Hindernis für das Zusammensitzen der ganzen Familie bei Tisch. Nur das Abendessen wird noch in vielen Familien gemeinsam eingenommen. Nur die Familie des landwirtschaftlichen Arbeiters macht eine Ausnahme. Von 100 Landarbeiterfamilien sitzen nur 36 beim Abendessen gemeinsam bei Auffallend ist, daß in den sozial höhergestellten Berufen und in den materiell gut situierten Kreisen die Kinder oft übermäßig streng gehalten werden. Der Ehrgeiz vieler Eltern ist schuld daran, denn sie wollen ihre Kinder zu Musterkindern erziehen.

Ein Großteil der niederösterreichischen Schulkinder wohnt im Eigenheim der Eltern. Unter den „Bauern“ sind einige Pächter und einige „Hauer“, die kein eigenes Haus besitzen und daher in Miete wohnen.

In den Städten verschiebt sich das Bild wesentlich, denn dort sind die Mieter stärker vertreten.

Durch die Wohnbauförderung sind in den letzten Jahren viele Lohnempfänger zu einem Eigenheim gekommen, und die Zahl der Mieter dürfte von Jahr zu Jahr geringer werden. Das ist ein großer Vorteil, denn die in Eigenheimen Tisch. Die Hälfte kommt oft zusammen, mehr als 80 von 100 hingegen nie. Es kommen auch einige Fälle vor, wo zu Hause nicht mehr gekocht wird, Man geht in die Werkküche oder in das Gasthaus essen. Diese Auflösungserscheinungen des Familienlebens brachten es mit sich, daß im besten Falle nur während der Nacht die ganze Familie in der Wohnung anzutreffen ist, vorausgesetzt, daß der Mann nicht Nachtdienst hat!

Die günstige wirtschaftliche Entwicklung zeigt sich darin, daß es im Landesdurchschnitt . in 77,4% aller Fälle den Kindern sehr gut, in 19,1% gut geht und nur 3,5% der Kinder Not leiden müssen bzw. unter der zu großen , Strenge der Eltern leiden.

Im bäuerlichen Kleinbesitz spielt da oft die wirtschaftliche Not eine Rolle. Vielfach sind auch die Trunksucht und die Liederlichkeit der Eltern schuld, daß die Kinder Not leiden müs- , sen. Am besten geht es den. Kindern der landwirtschaftlichen Arbeiter: 85,5% geben an, es gehe ihnen sehr gut. Doch muß betont werden, daß es;. jn Berufsschichte ; 5,0% .Kinder gibt, die Not leiden. Per Landesdurchschnitt weist 1,8% notleidende Bauernkinder auf. Im Industrieviertel sind sogar 5,9% notleidende Bauernkinder ausgewiesen und im Weinviertel 5,1%. In diesen zwei genannten Landesvierteln , ist der kleinbäuerliche Besitz sehr stark ver- treten!

Uebersicht über die Lage unserer Schulkinder:

heranwachsenden Kinder werden bodenständig und stärker an die Heimat gebunden. Leider weisen die alten Häuser viele Mängel auf. Die Wohnungen sind häufig derart klein, daß für die Kinder kaum Platz zum Spielen und Aufgabenmachen bleibt. Sehr oft sind die Räume feucht und ungesund und geben zu verschiedenen Krankheiten Anlaß. In den kleinen Räumen können oft auch die notwendigen Betten für die Kinder nicht aufgestellt werden. Die Eltern nehmen sie leider manchmal in die Ehebetten oder, was meistens der Fall ist, zwei Geschwister müssen das Bett teilen. In zu engen und kleinen Wohnungen sind Kinder von Angehörigen der:

Viele alte Häuser sind derart feucht, daß sie schon längst hätten abgerissen werden sollen, da sie für die Bewohner eine ständige gesundheitliche Gefahr darstellen.

Derzeit wohnt noch jedes 6. Kind eines Hilfsarbeiters, Rentners u. a„ jedes 8. Kind eines Facharbeiters, Angestellten und Handwerkers, jedes 9. Kind eines Bauern und jedes 10. Kind eines landwirtschaftlichen Arbeiters in einer ungesunden, feuchten Wohnung.

Wollte man die Gesundheitsverhältnisse in den Bauernhöfen Oesterreichs annähernd angleichen, so müßten allein 50.000 Bauernhäuser demoliert werden. Die Wohnverhältnisse in den Bauernhöfen sind nicht überall gleich. So weist das niederösterreichische Weinviertel weit unter dem Landesdurchschnitt liegende ungesunde Wohnungen auf. Hingegen liegt das Waldviertel wieder weit über dem Durchschnitt.

Die engen Wohnungen einerseits und die sozialen Verhältnisse anderseits gestatten es oft nicht, für jedes Kind ein eigenes Bett aufzustellen bzw. eines anzukaufen. Am ärgsten betroffen sind die 17,8% der Kinder von Hilfsarbeitern. Dann folgen 14,% der Kinder von Beamten ohne Matura, 14% der Kinder von Rentnern und Kriegerwitwen, 11,7% der Kinder von Handwerkern, 11,4% der Kinder von Bauern und zwischen 8 bis 10% die Kinder der übrigen Berufsstände. Von den Kindern der Aerzte, Gutsbesitzer u. a. freie Berufe mit Matura schläft nur jedes 43.- Kind in keinem eigenen Bett! Erwähnt sei noch, daß im Waldviertel der Prozentsatz der Kinder, die kein eigenes Bett haben, 24,6% beträgt, hingegen im Mostviertel nur 6,5%.

Die meisten Kinder gehen zwischen 19.30 und 20.30 Uhr zu Bett. Kinder der Unterstufe und solche, die weite Schulwege haben und bereits sehr früh aufstehen müssen, gehen vereinzelt auch um 19 Uhr zu Bett. Der Großteil der Schüler steht zwischen 6 und 7 Uhr auf. Das Fernsehen ist häufig schuld, daß Kinder oft sehr spät zu Bett gehen und am nächsten Tag in der Schule während des Unterrichtes nicht ausgeschlafen sind.

Auch die sanitären Anlagen, einschließlich des Bades, lassen noch zu wünschen übrig. Vier Fünftel aller Niederösterreicher haben kein eingerichtetes Badezimmer. Am besten sind die Kinder von Akademikern Maturanten in freien Berufen dran.

Der Einfluß der Großstadt macht sich auch hier bemerkbar: In 57% der Bauernhäuser in der Umgebung Wiens findet man Badezimmer!

Die Lehrkräfte bestätigen, daß die meisten Schulkinder rein und sauber in die Schule kommen, nur hie und da wird auf das Waschen vergessen. Die unreinlichen Häuser sind in jeder Gemeinde bekannt, ihre Besitzer stehen in keinem guten Rufe. In solchen Häusern ist es noch möglich, daß keine Zahnbürste vorhanden ist bzw. nur eine, die von allen Familienmitgliedern benützt wird. Auf dem Gebiete der Zahnpflege ist noch manches nicht in Ordnung.

Auf dem Gebiete der Ernährung ist in den letzten Jahren eine große Wandlung eingetreten. In den kleinsten Gemeinden findet man Tiefkühlanlagen, in vielen Bauernhäusern gibt es Eiskasten, und die jüngere weibliche Generation hat in der landwirtschaftlichen Fortbildungsschule kochen gelernt. Auch von den anderen Berufskreisen werden gerne die Haushaltungsschulen und Kochkurse besucht. Man ißt besser und weit gesünder als früher.

Im Alpenvorland und im Mostviertel ist die eiweißreiche Nahrung beliebt. Im Viertel der „gefüllten Fleischtöpfe“ findet man auch 31% sehr gut genährte Bauernkinder, im Industrieviertel 26,5%, im Waldviertel 20%, in Wien- Umgebung 11,2%, im Weinviertel 11,1%.

Und doch bringt es die zu eiweißreiche Nahrung und die einseitige Kost mit sich, daß trotzdem im Bauernstände 10,5% schlecht bzw. mangelhaft ernährte Kinder gezählt wurden. Wenn in den übrigen Berufsschichten viele mangelhaft und schlecht genährte Kinder vorkommen und mit dem Essen übermäßig gespart wird, so ist der Grund darin zu suchen, daß auf ein Auto, auf eine Wohnung usw. gespart wird bzw. die Raten bezahlt werden müssen.

Die Uebersicht gibt darüber genaueren Bescheid:

Die Kinder der Intelligenzberufe sind in überwiegender Zahl sehr gut bzw. gut gekleidet, während jedes 3. Kind eines Rentners bzw. einer Kriegerwitwe, jedes 5i Kind eines Hilfsarbeiters und jedes 9. Kind eines Bauern mangelhaft bzw. ärmlich gekleidet ist. Im Bauernhaus wird mit der Kleidung gespart. Manche Kleidungsstücke werden immer wieder instand gesetzt und von den jüngeren Geschwistern ausgetragen. Die Bauernkinder in der Umgebung Wiens stechen in der Kleidung von den Stadtkindern nur wenig ab. Mangelhaft gekleidete Kinder sind dort nicht mehr anzutreffen. Hingegen findet man bei den wirtschaftlich schlecht gestellten Bergbauern, die keinen Wald besitzen, oft bis zu 12% mangelhaft oder schlecht gekleidete Kinder.

Wenn auch in den einzelnen Berufsschichten und Landschaftsgebieten des Landes große Unterschiede in den Umweltverhältnissen unserer Schulkinder festzustellen sind, so ist der Durchschnitt doch auf allen Gebieten zufriedenstellend.

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