Im Schatten von PISA

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Warum die derzeitige Diskussion um die Schulreform an der Sache vorbeigeht.

In den letzten zwei Wochen ist die Diskussion über die PISA-Studie wieder entflammt. Themen sind diesmal die Einführung der Gesamt- und Ganztagsschule, eine Verschiebung des Schulbeginns auf 9 Uhr und eine verbesserte Lehreraus- und weiterbildung. Alle sind sich einig, dass nun eine "ideologiefreie Debatte" nötig sei, die "sachlich und tabulos" geführt werden solle, so Bildungsministerin Elisabeth Gehrer. Der Ideologieverzicht bleibt aber ein Lippenbekenntnis. Das zeigt besonders die Diskussion um die Gesamtschule. Während SPÖ und Grüne - ideologisch motiviert - etwa an der Gesamtschule, einem pädagogischen Ladenhüter der 1970er Jahre, festhalten, folgt Gehrer der neoliberalen Ideologie: Funktionsträgern werden unter immer schlechteren Rahmenbedingungen und unter Androhung von Sanktionen Spitzenleistungen abverlangt. Missstände werden einfach "personalisiert": für die schlechten PISA-Ergebnisse machte Gehrer zunächst die Eltern (mit)verantwortlich, nun sind es vor allem die Lehrkräfte, die versagt haben sollen. Eine Lehrerin, die 30 Pubertierenden in drei Wochenstunden Französisch beibringen soll, kann die Erklärung der Ministerin, man müsse über individuelle Förderung nachdenken, nur als Zynismus auffassen.

Falsche Begründungen

PISA wird auch im Kampf für die Ganztagsschule instrumentalisiert. Hier ist kein klarer kausaler Zusammenhang zwischen dieser Schulform und besseren PISA-Ergebnissen nachweisbar. Nun gibt es durchaus Argumente, die für die Ganztagsschule sprechen: die Entlastung berufstätiger Eltern oder die Möglichkeit, Einwandererkinder besser zu integrieren. Ganztagsschule sollte dann aber so begründet werden. Warum ist PISA auch hier das falsche Argument?

1. PISA ist ein Test, der ausschließlich die Leistungen von Schülerinnen und Schülern misst und nicht die Qualität unterschiedlicher Schulsysteme.

2. Es werden jene Länder ignoriert, die mit den Gesamtschulsystemen bei PISA (extrem) schlecht abgeschnitten haben, etwa Brasilien oder Mexiko. In Japan besuchen zwei Drittel der Schüler teure private Nachhilfeschulen; in den USA laufen die Eltern dem Gesamtschulsystem davon - sofern sie es sich leisten können. Es finde, so der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, "eine Abstimmung mit den Füßen gegen Einheitsschule" statt.

3. PISA zeigt, dass Deutschland mit differenzierten Schulsystemen zu den erfolgreichsten Ländern gehört - auch was die Förderung von Ausländerkindern und sozial Schwachen angeht.

Zwischen Gesamtschule und guten PISA-Ergebnissen besteht eine Korrelation, kein kausaler Zusammenhang. Auch von der Ganztagsschule sollten nicht voller Naivität wahre Wunder erwartet werden. Eine ähnliche Naivität und ein Machbarkeitswahn herrschen auch hinsichtlich der Lehreraus- und weiterbildung vor. Die Reformpädagogik ist an Österreich vorbeigegangen. Offenbar dominiert der Frontalunterricht und Einzelpulte können oft nicht einmal für Partner- oder Gruppenarbeit bewegt werden. "Wer heute glaubt, eine Lehrkraft könne im Klassenunterricht allen Kindern gleichermaßen gerecht werden, wenn sie nur methodisch kompetent genug sei, der glaubt an den pädagogischen Weihnachtsmann", warnt die Finnlandexpertin Thelma von Freymann.

Finnische Verhältnisse

Warum ist nun das finnische Schulsystem so gut? Der wahrscheinlich wichtigste Faktor ist der individualisierte Unterricht. Die Schüleranzahl pro Klasse ist niedrig und die Schüler werden zusätzlich von Fachkräften wie etwa einem Bewegungstherapeuten oder einer zweiten Lehrkraft betreut. Der Unterricht wird damit von Störungen weitgehend frei gehalten, die Lehrerinnen und Lehrer haben einfach Zeit zum Unterrichten. Zum Vergleich: In deutschen oder österreichischen Schulen gehen etwa 30 Prozent der Stunde durch Störungen, für Konflikt- oder Problembewältigung verloren. Anders in Finnland: Für Problemkinder gibt es Psychologen, für Leistungsschwache eine Speziallehrerin, die dem Kind so viel Einzelunterricht gibt, wie es braucht. Pro Jahr sind das etwa 17 Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Diese innerschulische Förderung schwacher Schüler garantiert, wie Freymann ausführt, einen Lernerfolg für fast alle. Zu diesem Vorteil kommen demographische und kulturelle Faktoren. Finnland hat einen Ausländeranteil von nur zwei Prozent. Für deren Kinder besteht Kindergartenpflicht, damit sie zu Schulbeginn die Sprache beherrschen. Finnland besitzt eine ausgeprägte Lesekultur, die Sprache erlaubt eine fast lautsprachliche Orthografie. Filme und Fernsehbeiträge werden nicht synchronisiert und zwingen fernsehende Kinder dazu, permanent und schnell Untertitel zu lesen. Es gibt wenig Bildungsfeindlichkeit. Politikerinnen und Politiker und die Medien verzichten darauf, ein Negativ-Image über Lehrkräfte aufzubauen. Die besten Uni-Absolventen werden Lehrerinnen und Lehrer und genießen ein hohes Sozialprestige.

Paradox am Rande: Auf Grund der sehr großen Schulautonomie sind die einzelnen finnischen Schulen extrem verschieden. Finnland hat damit eine Gesamtschule, die gewissermaßen keine ist: Es gebe, so Freymann, de facto Eliteschulen, die durch ihr spezielles Angebot die begabteren Schülerinnen und Schüler anziehen.

Legitime Folgerungen

Welche Veränderungen legt das erfolgreiche PISA-Beispiel Finnland nahe?

* Mehr individuelle Förderung für schwache Schülerinnen und Schüler, vor allem in den Volksschulen.

* Intensive Sprachförderung für Immigrantenkinder und verpflichtender, aber kostenloser Kindergarten für diese.

* Ein Vertretungssystem sorgt dafür, dass es (fast) keinen Unterrichtsausfall gibt.

* Externe Evaluation von Schülerleistungen und Schulen.

* Lehrerfortbildung nur an schulfreien Tagen.

* Politikerinnen und Politiker und Medien verzichten auf eine weitere Demontage des Lehrerimages.

* Die Fernsehanstalten verpflichten sich, regelmäßig Spielfilme im Original mit Untertiteln zu senden.

Der Autor ist Lehrer am Wiener Wasagymnasium und Dozent für Neuere Geschichte an der

Universität Wien.

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