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In Auerbachs Keller

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Von Leipzig nach Dresden. Ich bezahle im „Astoria“ die Hotelrechnung; es bleibt beim angegebenen Zimmerpreis, von 15 Prozent Service oder andern Zuschlägen ist nicht die Rede (kein Service also; ich habe freilich nirgends in der DDR eine Kellnerin oder einen Ober getroffen, welche die Annahme eines Trinkgeldes verweigert hätten; 10 Prozent werden immerhin bereits als ungemein üppig empfunden).

Im „Astoria“, in Leipzig überhaupt, vor allem am Ring ist die Atmosphäre leicht international; Fahnen verschiedener Länder flattern im Wind, ausländische Autos fallen nicht allzusehr auf. Die Messe hebt das Selbstbewußtsein der Stadt, und gegenwärtig wird gerade ein internationaler Bach-Wettbewerb ausgetragen. Nach einem kommentierten Photoband von Leipzig erkundige ich mich in den Buchhandlungen allerdings umsonst; es gibt zur Zeit keinen, und ein kleiner Führer durch die Stadt ist ebenfalls nicht aufzutreiben. Auch die putzigrührenden Plastiksäcklein, in denen der zuständige Beamte der Deutschen Notenbank fremde Währungen versorgt, passen eher ins Cachet eines Provinznestes als einer Weltstadt. Aber schön und feierlich kühl ist es in der Thomaskirche, wo gerade die Orgel fürs abendliche Konzert eingestimmt wird. Und für den Germanisten versteht sich’s von selbst, daß er seinen Leipziger Aufenthalt in Auerbachs Keller neben dem prachtvollen alten Rathaus beschließt. Die Weinstube zwar, der eigentliche Ort mephistophelischer Gaukeleien, ist zur Mittagsstunde noch geschlossen; auch bei Bier und Ochsenmaulsalat indessen stellen sich Erinnerungen an literarischen und anderen Studentenulk ein. Leicht melancholischer Abschied also.

Das Schulsystem

Dank gütiger Vermittlung eines Studienrates, den ich bei der Goethe- Tagung in Weimar kennengelernt habe, ergibt sich die Möglichkeit einer längeren Aussprache mit dem Direktor der berühmten „Kreuz schule“ in Dresden. Direktor Richter ist ein sympathischer, freundlicher Mann, entschiedener Marxist ohne Zweifel und fest davon überzeugt, daß der Kommunismus dem Kapitalismus als Gesellschaftsordnung überlegen sei.

Ich will ohne Umschweife versuchen, einige Gedankengänge dieses Schulmannes möglichst sinngetreu wiederzugeben:

Den Anforderungen unserer Zeit sind nur jene Führungskräfte gewachsen, die sich in den Bereichen der geistigen und der manuellen Tätigkeit gleichermaßen auskennen. Der Verbindung zwischen Studium und Arbeit kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Diese Verbindung strebt das Schulsystem in der DDR ganz bewußt an. Etwa 20 bis 25 Prozent der Schüler verlassen derzeit nach acht Jahren die Schule; ihre Zahl wird immer mehr zurückgehen. 70 Prozent der Schüler verlassen die Schule nach zehn Jahren; sie erreichen die „mittlere Reife“ und haben zu diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der Berufslehre absolviert. (Die Schulpflicht beträgt in der DDR jetzt grundsätzlich zehn Jahre.) 5 bis 10 Prozent der Schüler verlassen die Schule nach zwölf Jahren mit dem Abitur und erhalten gleichzeitig den Facharbeiterbrief: d. h. sie haben sich auf die Maturität vorbereitet und daneben gleichzeitig eine Berufslehre gemacht.-

Gegenwärtig müssen die Gymnasiasten einen Tag pro Woche in der Fabrik arbeiten, was sich nicht ganz bewährt hat. Geplant ist ein neuer Rhythmus von jeweils 3 Wochen Schul- und einer Woche Berufsarbeit. (Gefragt, ob denn die jungen Leute durch solch doppelte Beanspruchung nicht überfordert würden, antwortet der Direktor, sie sei „einfach notwendig“; dafür habe man einigen „entbehrlichen Bildungsballast“ abgeworfen.)

96 Prozent aller Studenten in der DDR erhalten Stipendien; das muß sich für die Gesellschaft natürlich bezahlt machen. An den Hochschulen kann deshalb nicht einfach jeder studieren, was er will; das Problem besteht darin, die Neigungen und die Eignung des Studenten mit den objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen in Einklang zu bringen (deutlicher gesagt: die Freiheit der Berufs- und Studienwahl ist sehr beschränkt; das Kollektiv gibt den Ausschlag).

Zum Glück zwingen?

Zur Pädagogik.: In der DDR sind sowohl Körperstrafen wie auch Strafarbeiten verpönt (Strafarbeiten, weil Arbeit nichts Entehrendes sein darf). Als Strafen kommen in Betracht die Verwarnung, der Verweis und schlimmstenfalls der Ausschluß aus der Schule, wobei der ausgeschlossene Schüler aber weiter von seiner Schule betreut wird.

Wie denn nun mit solch gewalti- loser Pädagogik die Beibehaltung der Todesstrafe in den kommunistischen Ländern zu vereinbaren sei, begehre ich zu wissen. Die Antwort kommt rasch; sie lautet: die Todesstrafe wird abgeschafft, sobald der Kapitalismus auf seine konterrevolutionären Umtriebe in den kommunistischen Staaten verzichtet… Und Wie sich denn nun solch gewal-

lose Pädagogik und die Notwendigkeit der „Lenkung“ des jungen Menschen miteinander vertrügen?

Die Antwort ist ein Eingeständnis: Ja, sagt der Direktor, Zwang kann leider unumgänglich sein, wenn der Mensch für das Leben in der Gemeinschaft noch nicht reif ist (aber manchmal, fügt er bei, wird Zwang angewendet, wo er schon nicht mehr notwendig wäre). Das Endziel — nach Direktor Richter — „ist die voll entfaltete Individualität im Dienste des Kollektivs. Wir lernen, wir haben Fehler gemacht, wir experimentieren. Ich bin stolz, bei der Geburt der neuen Menschheit mitzuhelfen. Wir werden sie nicht mehr erleben, aber vielleicht unsere Enkel.“

Das alles, weil nüchtern und präzis gesagt, ist eindrucksvoll. Aber es bleiben die großen Fragen: Heiligt der Zweck die Mittel? Darf man den Menschen zu seinem Glück zwingen?

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