Inklusion - © Foto: Stanislav Jenis

Inklusiver Unterricht: Ein Bezirk ohne Sonderschule

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Wie steht es hierzulande um die Integration behinderter Kinder in Regelschulen? Nur mäßig gut, so Experten. Besondere Beispiele zeigen aber auf: Ein Durchbrechen von Grenzen ist möglich.

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Wie steht es hierzulande um die Integration behinderter Kinder in Regelschulen? Nur mäßig gut, so Experten. Besondere Beispiele zeigen aber auf: Ein Durchbrechen von Grenzen ist möglich.

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Werkunterricht, Montag Morgen: Rund ein Dutzend Kinder von sechs bis zehn Jahren basteln eine Raupe. Während eine Gruppe der Kinder selbstständig ihre Raupen fertigstellt und flink mit Schere und Klebstoff hantiert, braucht ein weiteres Kind besondere Unterstützung. Der Bub schneidet mit Hilfe einer Sonderschulpädagogin Papierformen aus, dann legt er wieder seinen Kopf auf den Tisch und scheint gedanklich woanders.

Der kleine Bub ist von Autismus betroffen, aber dennoch in einer Mehrstufen-Volksschulklasse integriert. Lange galten Kinder mit autistischer Wahrnehmung als kaum integrierbar, da sie sich besonders schwer mit Veränderungen und sozialer Interaktion tun. Doch das resignative „Das geht eh nicht“ wollte die reformpädagogische öffentliche Volksschule im 20. Wiener Bezirk „Integrative Lernwerkstatt Brigittenau“ nicht einfach hinnehmen.

Zurzeit werden sieben autistische Kinder an der Schule unterrichtet. Werklehrerin Gabriele Reithofer freut sich in dieser Unterrichtsstunde. Der kleine Bub lässt sich zum Mitarbeiten motivieren und das, obwohl er eben erst eingeschult wurde. Er braucht eine Eins-zu-eins-Betreuung. Individueller Unterricht, kleine Gruppen, viel Aufwand – aber er ist dabei, mitten unter den anderen „normalen“ Kindern. An der Schule werden 49 Kinder mit sogenanntem „sonderpädagogischem Förderbedarf“ unterrichtet, insgesamt zählt die Schule 259 Schüler.

„Kreative Zugänge gefragt“

Die Schule gilt als eine der Vorreiterinnen in puncto Integration. Auf die Frage, ob es denn noch Sonderschulen brauche, mahnt Direktor Josef Reichmayr einen kreativen, aber keinen dogmatischen Zugang ein. „Es gibt viele Möglichkeiten der Anbindung an die Regelschulen.“ Er fordert „die größtmöglichen Anstrengungen, um Kinder an einem größtmöglichen sozialen Feld teilhaben zu lassen“. Es gab an der Schule bisher wenige „krasse“ Ausnahmen, wo die Integration zumindest zeitweise nicht geklappt hat.

Doch wie steht es in puncto Integration in Österreich? Experten stellen der heimischen Bildungspolitik in Sachen Inklusion/Integration kein gutes Zeugnis aus. „Die Integration stagniert. Es gibt zwar immer exzellente Beispiele und miserable, aber insgesamt vernachlässigt die Politik das Thema“, sagt der Innsbrucker Erziehungswissenschafter Volker Schönwiese, Experte im Bereich Pädagogik für behinderte Menschen. Die internationale Entwicklung würde Österreich irgendwann überrollen, prognostiziert er, und weitere Anstrengungen in dem Bereich einfordern. UN-Konventionen mahnen zur vollen Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Auch andere EU-Länder sind laut Schönwiese längst weiter. Italien hat beispielsweise seit den 70er Jahren keine Sonderschulen mehr. Österreich beschritt den Weg der Wahlfreiheit zwischen Sonderschule und Integration. Die gut etablierte Institution Sonderschule wolle sich aber erhalten. „Es ist wie ein Kaskadenmodell“, sagt Schönwiese. „Wenn man nicht dagegen ankämpft, geht der Strom immer nach unten, in Richtung Sonderschule.“ Es hängt also vom Engagement der Eltern, von Lehrern und auch Verantwortlichen in Behörden ab. Der Protest der Eltern behinderter Kinder führte in den 80er Jahren zur Einrichtung erster Integrationsklassen, zunächst in Oberwart im Burgenland, dann folgte auch eine Klasse in Tirol. Allen voran im Engagement war Heinz Forcher, ein Gastwirt aus dem Bezirk Reutte in Tirol, der vor 25 Jahren nicht mehr hinnehmen wollte, dass es für seinen damals fünfjährigen Sohn, der aufgrund eines Sauerstoffmangels behindert ist, kein Angebot gab und der daher ein Jahr lang ein Heim besuchen musste. Eine leidvolle Erfahrung für die Familie. Forcher fand im damaligen Sonderschuldirektor Norbert Syrow einen ungewöhnlichen Verbündeten: Der Direktor beschloss, seine eigene Schule zu schließen. Und tat es auch – gegen enormen Protest von Schulbehörden und weiteren, die nicht an das Konzept Integration glauben wollten – noch nicht! Innerhalb von zwölf Jahren war der Übergangsprozess vollendet, Reutte ohne Sonderschule und das bis heute.

Das Beispiel machte aber in Tirol nicht Schule. Warum? „Integration stellt die Machtfrage“, sagt Forcher: Die jungen Menschen, die integriert wurden, würden zu selbstbewussten, selbstständigen Menschen heranwachsen, die Fragen stellten. Das will nicht jeder. Doch die damalige Aufbruchstimmung ist in Stagnation gemündet, wie auch Roland Astl, Leiter der sonderpädagogischen Beratungsstelle im Bezirk Reutte, bestätigt. Österreich hat laut Astl in den 90er Jahren bemerkenswerte Integrationsgesetze erlassen, doch seither herrscht Stillstand. Bildungsministerin Claudia Schmied gab trotz mehrmaligen Nachfragens gegenüber der FURCHE keine Stellungnahme ab, wie es in puncto Integration und Sonderschulen weitergehen soll.

Astl hat hingegen eine klare und lange Forderungsliste; hier die wichtigsten Punkte: Integration ist gesetzlich nur bis zur achten Schulstufe geregelt. Das kann dazu führen, dass Kinder erfolgreich bis zur achten Stufe Volks- und Hauptschule durchlaufen, danach in eine Sonderschule müssten. Zudem seien Ressourcen knapp, Behörden gingen von einer zu niedrigen Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus. Zurzeit werden im Bezirk Reutte 75 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Pflichtschulen integriert (die AHS ist kaum offen für Integration). Selbst Kinder, die als schwer und mehrfach behindert eingestuft sind, werden in Pflichtschulen integriert. Es gibt nun einen Fall, wo medizinisches Fachpersonal an der Schule ein Kind mitbetreut.

Umstritten ist freilich die Qualität der Integration, aber auch der Sonderschulen, wie Experten betonen. Systematische Studien hierzulande fehlten, so Schönwiese. „Man kann immer Bedingungen so schlecht machen und dann darauf hinzeigen, dass es nicht funktioniert“, meint Schönwiese und verweist auf manche Beispiele knapper Ressourcen in Integrationsklassen. „Was in Sonderschulen passiert, ist unsichtbar, Integration hingegen öffentlich.“

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