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Integration: Ja, aber angemessen

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Alle Kinder sind gemeinsam zu unterrichten, unabhängig von ihren Möglichkeiten: Eine kritische Betrachtung dieser heute gängigen Forderung.

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Alle Kinder sind gemeinsam zu unterrichten, unabhängig von ihren Möglichkeiten: Eine kritische Betrachtung dieser heute gängigen Forderung.

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Fürsorgende Hilfe ist im Umgang mit den Behinderten wohl immer wieder und in weitem Maße notwendig, aber die Beschränkung der Heilpädagogik auf bloße Betreuungsund Verwahraktivitäten des Behinderten bedeutet in radikaler Konsequenz die Mißachtung seines Menschseins.

Dem Behinderten schuldet die Gesellschaft und die von ihr einzurichtende Pädagogik und die sie ausführenden Pädagogen den pädagogischen Dialog. Die Forderung ist un-aufhebbar. Kein Behinderter darf aus diesem Dialog ausgeschlossen werden, wenn ihm das Menschsein nicht abgesprochen werden soll, wenn - und das gilt es nun auch zu betonen - menschliche Gemeinschaft sich nicht selbst zerstören und pervertieren will. So wie dem Behinderten der Dialog geschuldet ist, so erweist die Gemeinschaft ihre Humanität selbst in jenem universalen Dialog. Er ist kein Zusatz zum Menschsein, sondern Ausdruck seiner Humanität.

Das ist auch die Grundlage für den Satz, daß nicht nur der Behinderte uns sogenannte „Nichtbehinderte” braucht, sondern im umgekehrten Sinn der Satz noch mehr Gewicht hat, daß wir den Behinderten brauchen.

Der Dialog ist nicht an das gesprochene Wort gebunden; er kann sich auch in Gesten, im Schweigen, im Symbol artikulieren und Gemeintes zum Ausdruck bringen. Das gilt vor allem in bezug auf jene Formen von Behinderung, in denen das Sprechen, das Vernehmen des Wortes eingeschränkt ist beziehungsweise durch Schädigung unmöglich geworden ist. Auch das ist kein Grund, dem Behinderten dialogische Zuwendung vorzuenthalten beziehungsweise deren vermeintliche Unmöglichkeit als Vorwand für Verweigerung anzuführen und das Soziale auf Betreuung beziehungsweise Therapie zu reduzieren. Die Pädagogik muß ihren Auftrag gegenüber dem Behinderten wahrnehmen, unabhängig von empirischen Daten der Medizin und Psychologie; allerdings in der Notwendigkeit, bezogen auf mögliche Daten aus Medizin und Psychologie und andere Wissenschaften im Ausgang und der Art ihrer Durchführung.

Das Wort Integration ist zu einem Schlagwort im wahrsten Sinne geworden. Ein Wort, mit dem man zuschlägt. Der Gebrauch von Schlagworten scheint Begründungen überflüssig zu machen. Das Zuschlagen auf den Gegner ersetzt das Argument. Die Verbindung mit dem Zeitgeist gibt Macht über das Denken und sichert Zustimmung ohne die Last des Begründers.

Dem Behinderten beziehungsweise seiner Bildung wird mit bloßen Schlagworten nicht geholfen. Im Gegenteil, er wird zum Instrument der Durchsetzung einer im Zeitgeist jeweils mitgelieferten Ideologie, er wird schließlich zum willenlosen Objekt jener Ideologie, die, bar jeder Selbstkritik nach der Herrschaft über Menschen greift. In diesem Sinne führt die Ideologie der Integration zur Überforderung an die Pädagogik einerseits, zur Ünterfor-derung und Verengung des pädagogischen Anspruches andererseits.

Ein Wort macht Karriere

Das Wort Integration hat eine steile Karriere hinter sich. Die mit ihr geltend gemachten organisatorischen Forderungen wollen unangefochten gelten. Sie wird zur Grundforderung der gesamten Heil- und Sonderpädagogik.

Niemand soll ausgegrenzt werden, alle sollen sich in die Gemeinschaft integrieren. Das behinderte Kind soll in den normalen Klassenverband integriert werden, in den Kindergarten, in die Schule, in das Gymnasium, in die Universitäten, schließlich in die Arbeitswelt, in die politische Gesellschaft, in die verschiedensten Gemeinschaften. Es kann auch als Verbot formuliert werden: Niemand soll aus gegebenen Institutionen ausgegrenzt, niemand stigmatisiert werden. Wer sein Denken nicht gleich gegenüber gängigen Schlagworten suspendiert, wer sich nicht gleich dem Zeitgeist unterwirft, der wird einige kritische Rückfragen stellen, auch wenn ihm in der Berufung auf den Zeitgeist sogleich der Vorwurf gemacht wird, er sei gegen Integration, damit gegen die Behinderten, für deren Ausgrenzung; er sei ein Antihumanist, vielleicht sogar Rassist, und schnell ist man auch - im Gegensatz zum eigenen vorhergehenden Bekenntnis - mit der Stigmatisierung des anderen und der anderen Meinung bei der Hand.

Schnell erlebt man den Vorwurf, es handle sich hier um verstecktes faschistoides Denken, und wer so denkt, ist insgeheim überhaupt zumindest praefaschistisch. Dabei will man nur vom Recht auf eigenes und damit auch zeitkritisches Denken Gebrauch machen und sich genau dadurch als „Antifaschist” erweisen.

Das Wort Integration wird vor allem, wo es als Schlagwort gebraucht wird, unscharf, es meint verschiedenes und wird in verschiedener Absicht gebraucht. In einem kürzlich erschienenen Wörterbuch der Pädagogik kann man lesen: „... in der gegenwärtigen sonderpädagogischen Diskussion wird der Gedanke der Integration im Sinne einer gemeinsamen Erziehung und Bildung von Behinderten und Nichtbehinderten Menschen ... in den Blick genommen.” Wenig später wird dann gefordert: „Die Möglichkeit weitgehender Eingliederung von behinderten Menschen in eine soziale Einheit ... soll die Trennung von Regel-und Sondererziehung aufheben und eine Aussonderung vermeiden.”

Man kann also festhalten: Integration heißt Eingliederung. Der Behinderte soll in „normalen” Institutionen des Begelschulsystems unterrichtet und erzogen werden, er soll insgesamt in die Gesellschaft, ihre Einrichtungen eingegliedert werden.

Zur Kritik an dieser Inhaltsbestimmung sind zwei Aspekte anzumerken:

■ Integration als die pädagogische Aufgabe der Sonder- und Heilpädagogik wird als Eingliederung verstanden.

■ Integration wird im wesentlichen als eine Forderung an Institutionen definiert.

Zum ersten: Wenn Integration als Eingliederung verstanden wird, sodann steht dies in Konkurrenz von Mündigkeit als Bildungsaufgabe. Denn Eingliederung bedeutet auch Verzicht auf Selbstbestimmung und Selbständigkeit zugunsten von herrschenden Sitten, Konventionen und gegebenen Regelsystemen.

Warnung vor Einpassung

Es mag schon sein, daß Kinder zunächst einmal lernen müssen, sich an Gegebenheiten, Sprache, Kultur, Zivilisation und anderes anzupassen. Das kann unter dem Gesichtspunkt von Mündigkeit und Selbständigkeit nur als vorläufig und als Durchgangsphase gesehen werden.

Grundsätzlich darf die Übernahme eines vorgegebenen Normensystems nicht vor gegebenen gesellschaftlichen Gegebenheiten haltmachen, kritische Reflexionen, wenn Selbstbestimmung ihren prinzipiellen Anspruch nicht zu Gunsten der Einpassung verlieren soll. In diesem Verständnis muß Integration im Widerspruch zur Pädagogizität von Sonder- und Heilpädagogik geraten, weil die gegebene Gesellschaft mit ihrem kulturellen und zivilisatorischen Überbau als Norm genommen wird, der man sich unkritisch zu unterwerfen hat. Wo dieses besonders vom Behinderten gefordert wird, gerade da wird er stigmatisiert.

Anders ist es, wenn Integration nicht als gegenseitige Angleichung, als Einpassung und Eingliederung in ein bestehendes gesellschaftliches System verstanden wird, wenn Integration als jene Aufgabe verstanden wird, die es als Folge der Zusammengehörigkeit aller Menschen zu beachten gilt. Mit anderen Worten als Folge der Zusammengehörigkeit aller Menschen unter dem Apriori ihrer Bildsamkeit, die unabhängig von der jeweiligen Individuallage gilt, wohl aber von dieser ihren Ausgang zu nehmen hat.

Ob man in diesem Zusammenhang noch von Integration sprechen sollte oder der Begriff der Solidarität nicht angemessener ist, mag als Anregung verstanden werden.

Ein anderer und besonders artikulierter Aspekt ist die Forderung nach gemeinsamer Unterrichtung und Erziehung von Behinderten und Nichtbehinderten. Diese Forderung ist verständlich, um Benachteiligungen, Diskriminierungen, Ausgrenzungen, unnötige raumzeitliche Hindernisse zu vermeiden; aber auch um die Zusammengehörigkeit von Behinderten und Nichtbehinderten augenscheinlich zu unterstützen, frühzeitiges Begegnen und Kennenlernen zu ermöglichen und zu unterstützen.

Die Forderung ist auch verständlich, wenn man um die Neigung mancher Lehrer weiß, unbequeme und anstrengende Schüler abzuschieben. Diese Forderung ist eine Reduktion jenes allgemeinen Prinzips auf Gemeinsamkeit mit dem Behinderten und auf mehrfache Weise kontraproduktiv.

Das raum-zeitliche Beieinander als Forderung kann für den Behinderten Folgen haben, die seinem Anspruch auf Bildung nicht gerecht werden. Als universal geltende Norm nimmt sie keine Rücksicht auf die Individuallage des Behinderten, auf Grad und Art der Behinderung, auf die jeweiligen institutionellen Möglichkeiten. Jene ist zwar nicht Maß, muß aber berücksichtigt werden, wenn Bildung nicht zum scheinbar idealistischen Anspruch verkommen soll, der die Einmaligkeit des Menschen mißachtet.

Das Bewusstsein ändern

Die prinzipielle Forderung nach Integration auf Institutionen wird verständlich, wenn Eltern die mutwillige Ausgrenzung ihres Kindes aus dem Regelschulsystem erleben; sie wird verständlich, wenn die besonderen Bemühungen, das heißt die Erziehung und Unterrichtung in besonderen Einrichtungen als Diskriminierung angesehen wird. Gerade das aber zeigt, daß Integration, wie eine heute häufig gebrauchte Formulierung besagt, eben nicht im Kopf vollzogen wurde.

Dem kann man allerdings nicht mit Verordnungen über institutionelle Regelungen entgegentreten; da kann allenfalls von Fall zu Fall die generelle Forderung unterstützen, wobei das Wesentliche die Änderung des Bewußtseins beziehungsweise der Einstellung bleibt.

Der Autor ist

Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität, sein Beitrag ein Auszug aus seinem Fortrag „Behindertenbetreuung, Behindertenintegration, Solidarität und Mündigkeit”.

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