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Digital In Arbeit

Intimität auf Abstand

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Ąm Ende einer Untersuchung stellt man sich oft die Frage, welche dig Hauptergebnisse gewesen seien, die man als Frucht der Arbeit in der Hand behält. Der Wissenschaftler läßt sich dabei ungern auf eine Zusammenfassung in ein paar Sätzen ein, weil er, gewöhnt an die vielen „Wenn und Aber“, die er sich selber bei der Gewinnung und Deutung der Ergebnisse eingewendet hat, eine Festlegung ohne umfangreiche Einschränkungen scheut. Dieses Sich- Bntziehen des Wissenschaftlers und seine Zuflucht zu langwierigen und komplizierten Resümees stößt viele Leser empirisch-soziologischer Arbeiten ab und enttäuscht vor allem die Praktiker in Verwaltung, Planung und Politik, die sich Richtlinien für das Handeln erwarten.

Wir sehen den Gewinn, den der Praktiker aus sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zieht, nicht allein in der Abklärung und Versachlichung der Basis für sein Handeln, sondern auch in dem „zündenden Funken“, der sich bei ihm einstellen soll, wenn er mit Material oder Thesen aus der Forschung konfrontiert wird. Wir glauben, daß die Arbeit der Verwaltung, Planung und Politik erfolgreich und durchschlagend nur sein kann, wenn sie eine schöpferische, dem Handlungsbereich Ideen zuordnende Tätigkeit ist. Daher sehen wir „den Praktiker“ nicht nur in einer rezeptiven Rolle, als einen, der Ergebnisse entgegennimmt und dementsprechend handelt. Der Denkfehler liegt im Begriff des „Dementsprechend“, weil eine praktische Lösung doch um so eher entspricht, das heißt problemgerechter ist, je stärker sie durch individuelle Entscheidungen erarbeitet und erforscht wurde.

Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Praktikern erhält dadurch eine besondere Note, daß die letzteren oft auch Vertreter von Institutionen und politischen Interessengruppen sind. Als Wissenschaftler wollen wir hier darum auch besonders anerkennen, daß die Wiener Stadtverwaltung durch die Erteilung von Aufträgen für hier referierte Untersuchungen Mut zur Entgegennahme sachlich-wissenschaftlicher Kritik einiger ihrer eigenen Maßnahmen und Einrichtungen erwies.

Bedeutende Gruppen von Menschen in höherem Alter brauchen keine besonders angelegten Wohnungen, wenn bestimmte Einrichtungen in den Häusern (zum Beispiel Aufzüge) und in den Wohnungen (Zentralheizung, Badenischen oder Badezimmer) vorhanden sind.

Demgegenüber genügen für hilfsbedürftige bejahrte Menschen selbst optimale Wohn- und Umweltbedingungen nicht; sie brauchen die verschiedensten sozialen und medizinischen Dienste, und diese sind ihnen in entsprechender Dosierung und Staffelung anzubieten. Unsere Untersuchung war bestrebt, eine Systematik dieser Dienste zu erarbeiten.

Ohne Organisation und Remuneration erwächst aus der örtlichen Nähe ebensowenig wirksame Hilfe für bejahrte Menschen durch nahe wohnende, aber ihnen fremde jüngere Personen, wie die Alten ihrerseits nicht zu „künstlichen Großeltern“ der im Viertel oder der umliegenden Wohnanlage spielenden Kinder werden.

Hingegen vermögen gleiche Sorgen und Probleme, die durch eine ähnliche soziale Lage und ungefähre Altersgleichheit gegeben sind, den Ansatzpunkt für die Neuerrichtung und Aufrechterhaltung von Sozialbeziehungen zu bieten, wenn diese Alters- und „Schicksalsgenossen“ in unmittelbarer örtlicher Nähe wohnen.

Die Punktion der „sozialen Nachbarschaft“ ist sehr spezifisch, sie kann weder Familienbeziehungen noch alte Lebensfreundschaften, am ehesten noch gewisse niedere Stufen der sozialen Dienste ersetzen. Sie bildet aber, wie wir an Hand unseres Materials zeigen, bei Ausfall des Ehepartners, der Familienbeziehungen und der Freundschaften einen „Teilausgleich“.

Die örtliche Nachbarschaft wird vom alten Menschen offenbar auch anders gesehen als vom jungen. Er entwickelt einen sitärkeren Territorialsinn, was mit der Beschränkung seines Bewegungsradius, aber auch mit dem Wunsch nach „Teilnahme ohne involviert zu werden“ und anderen sozialkulturellen Bedingungen seiner Auffassung und Beurteilung der Umwelt zu tun hat.

Ein neues Modell

Bezüglich der Familienbeziehung bejahrter Menschen kamen wir zu folgendem Schluß: Wir setzten an die Stelle des von uns kritisierten und abgelehnten Modells von der Auflösung der Dreigenerationenfamilie ein neues, jenes nämlich, das die sozialfunktionelle Aufrechterhaltung der Beziehungen in der Dreigenerationenfamilie bei Auflösung des gemeinsamen Haushaltes umfaßt. Der Zusammenhalt zwischen den Gene rationen im Verband der Mehrgenerationenfamilie bietet in praktisch allen sozialen Schichten die Grundlage für Beziehungen (zum Beispiel Besuche, Pflege bei Krankheit, Aushilfe) trotz überwiegender faktischer — und von beiden Generationen erwünschter — Haushaltstrennung.

Die industrielle Gesellschaft hat sich, als die gemeinsame Produktion oder Manipulation der Güter als Grund für die lokale Identität immer mehr wegfiel, zwar den kernfamiliären Haushalt geschaffen, sie hat aber die Mehrgenerationenfamilie bestehen lassen. Freilich haben wir es dabei nicht einfach mit dem Fortbestand einer vor- oder außerindustriellen Sippenfamilie zu tun, sondern mit einer neuen Sozialform, mit begrenzten und geteilten Verpflichtungen und den entsprechenden Emotionen.

Die soziologischen Untersuchungen zur Gerontologie erwiesen, daß die Beziehungen zwischen den Generationen innerfamiliär stark genug sind, um die funktionelle Ablösung rückgängig machen zu können. Es wäre daher ein Fehler, wenn man Haushaltstrennung im Ausgliede- rungsvorganig der Generationen als unwiderruflich auffassen würde. Das Gegenteil ist richtig: wir müssen von einer „Ablösung auf Widerruf’ sprechen. So sind besonders im Falle der Krankheit und Pflegebedürftigkeit — trotz krasser Fälle der Vernachlässigung der alten Eltern durch die Kinder — generell die Chancen hoch, daß die intensivierten Wechselbeziehungen zu Hilfe und Pflege führen, ja gelegentlich sogar in eine Haushaltszusammenführung münden. Bei Verlust eines Ehepartners ist die Wahrscheinlichkeit höher als bei Bestehen der Ehe, daß sich die bejahrten Menschen ihren Nachkommenschaftsfamilien haushaltsmäßig anschließen.

Aus all dem zeigt sich die starke Bedeutung des von der Soziologie noch vor 15 Jahren kaum beachteten oder sogar bestrittenen Zusammenhanges der Generationen.

Unsere Auffassungen von der Widerrufbarkeit der Ablösung von der Möglichkeit der Wiederherstellung der Haushaltsgemeinschaft auf Grund der bestehengebliebenen engen Beziehungen ztir Familie stehen nicht völlig im Widerspruch zur sogenannten „Disengagement“-Theorie. Denn die Einschränkung des Be- wegungs- und Aktivitätsradius der Bejahrten und jene darin zum Ausdruck kommenden Wünsche nach Distanz, die wir beim Verhältnis zu örtlicher Umgebung und teils auch zu sozialer Nachbarschaft fanden, waren Anlaß zu der von uns geprägten allgemeinen Formel zur Bezeichnung der Sozialbeziehungen alter Menschen: „Intimität auf Abstand“.

Gegen eine glatte Annahme der Disengagement-Theorie sprechen jedoch unsere und andere sehr zahlreiche Ergebnisse über das Bestehen-Bleiben, ja sogar die Verstärkung von Beziehungen zwischen alten Menschen und ihren Nachkommenschaftsfamilien oder die Neuerrichtung zum Beispiel von Nachbarschaftsbeziehungen zu Gleichaltrigen.

Erlaubte inhaltliche Konsequenzen

Eine Bemerkung bezüglich der Methodik sei hier eingefügt, besonders deswegen, weil eine Anzahl von Ergebnissen — nicht diejenigen, aus denen die hier dargestellte These über die Art der Familienbeziehungen abgeleitet wurde, aber zum Beispiel einige Folgerungen über Nachbarschaft und Wohnung — auf einer relativ geringen Anzahl von Untersuchungspersonen beruhen. Wir haben jedoch Folgerungen nur dann gezogen, wenn uns das Zahlenmaterial — entweder das eigene allein oder zusätzlich das verwandter Untersuchungen mit gleichlautenden Fragen, die als Wiederholung des Befragungsexperimentes unter geänderten Bedingungen aufgefaßt werden können — statistisch soweit schlüssig erschien, daß wir die inhaltlichen Konsequenzen für erlaubt hielten. Unsere Arbeit will auch nicht für alle ihre Ergebnisse als Repräsentativuntersuchung gewertet werden. Soweit sie sich auf den im eigenen Institut ausgearbeiteten Mikrozensus von 6900 Wiener Haushalten stützt und institutseigene Erhebungen einer in der Arbeit näher beschriebenen geschichteten Stichprobe der bejahrten Bevölkerung verwertet, hat sie eine andere statistische Geltung als dort, wo sie auf knapp 100 in die Tiefe gehende Spezialinterviews beruht.

Einige Hauptthesen der Studie

Wir suchen darzulegen, daß die Zunahme des Anteils bejahrter Menschen und die dramatische Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung etwa in den letzten hundert Jahren vor allem das Ergebnis der Pflege und medizinischen Betreuung von Menschen in den frühen Abschnitten ihres Lebens, also in Kindheit und Jugend, ist und daß die aus dieser Gesellschaftsform hervorgegangene Bevölkerungsweise (ausgedrückt vor allem durch eine im Unterschied 2ur vorindustriellen Gesellschaft niedrigere Geburtenrate) für die Festlegung der früher veränderten Altersproportion in der Gesellschaft mitverantwortlich ist.

Die gesellschaftlichen, aus Erkenntnissen, Einstellungen und sozialen Einrichtungen entstandenen Veränderungen haben völkermäßige Gewichtsverlagerungen zur Folge gehabt. Gesellschaftliche Faktoren sind biologisch folgenreich geworden— und die neuen Bevölkerungsstrukturen präsentieren ihrerseits wieder bedeutende zwischenmenschliche Probleme in neuen Formen.

Die Untersuchung dieser Probleme begannen wir mit eine Studie über die Wohnbedürfnisse der Bejahrten. Diese Studie ergab, daß diese Bedürfnisse sehr stark vom Gesund- heits- und Beweglichkeitsgrad abhängig sind und daß daher für speziell hilfsbedürftige alte Menschen auch spezielle Bedingungen in der Einrichtung aber auch der Umgebung der Wohnungen — einschließlich der Versorgung mit Geschäften— gegeben sein müssen.

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