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Ist Aufklärung alles?

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„Statt die sexuelle Haltlosigkeit und Verwilderung der heutigen Menschheit als Symptom einer tiefer liegenden sittlichen Auflösung zu erkennen und demgemäß auch auf eine allgemeine Regeneration der Fundamente des Charakters auszugehen, bezeichnete man die mangelnde sexuelle Belehrung der Jugend als die eigentliche Ursache des Übels und verfiel auf eine ebenso einseitige wie gefährliche Aufklärungsmanie, die viele Pädagogen... ganz übersehen ließ, daß die sexuelle Widerstandsfähigkeit mehr eine Kraftfrage als eine Wissensfrage ist.“ Kein Wunder, daß der Verfasser solcher Zeilen, der bekannte christliche Pädagoge Fr. W. Foerster, der schon im Vorwort zu seinem berühmten Werk: „Sexualethik und Sexualpädagogik“ mit seiner Ansicht über die Aufklärung nicht hinter dem Berg hielt, Gegenstand erbitterter Angriffe wurde. Widersprach doch seine Auffassung fast allem, „was die moderne Denkweise bereits als gesicherte Errungenschaft des geistigen Fortschritts“ betrachtet hatte. Und doch! Welch ... geistige Assistenz wurde dem Autor kaum eineinhalb Jahrzehnte später zuteil, Hilfe von einer Seite, von der man dies am allerwenigsten erwartet hätte. Dr. Siegfried B e r n f e 1 d, der bedeutende Berliner Psychoanalytiker, schrieb in einem Aufsatz: über sexuelle Aufklärung: „Ich möchte nicht mißverstanden werden. Ja, die Kinder sollen, so früh sie nur wollen, die Wahrheit von ihren Eltern und Erziehern erfahren. Nur soll man das nicht in der Uberzeugung tun, dadurch etwas unvergleichlich Wichtiges für die Erziehung getan zu haben ...“ Und das Organ, das sich einer solchen Ansicht nicht verschloß? Die „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“, als Sonderheft erschienen und Sigmund Freud zum 71. Geburtstag gewidmet.

Es ist wichtig, dies festzuhalten, weil zur Zeit „hüben und drüben“ wieder einmal zahlreiche Artikel erscheinen, die sich mit dem Thema „Sexuelle Aufklärung“ befassen und dabei der Uberzeugung sind, „etwas unvergleichlich Wichtiges für die Erziehung getan zu haben“. Obschon bei weitestgehender moralischer, ethischer oder ästhetischer Zielsetzung über die bloße Erklärung von Zeugung und Geburt nicht hinausgegangen wird. Wie gering diese Methode — selbstverständlich immer in bezug auf eine Triebbeherrschung als erstrebenswertes Ziel — voranzuschlagen ist, erhellt daraus, daß jeglicher Willensakt — und nur um solche handelt es sich bei der Beherrschung, Regelung oder Unterdrückung des menschlichen Trieblebens — gefühlsmäßig und nicht intellektuell motiviert wird. Bezogen auf diese Motivsetzung nun ist es — rein theoretisch gesprochen — gleichgültig, wann und woher der Mensch seine Aufklärung erhält, obschon es ohne Zweifel wünschenswert ist, dies vom Elternhaus aus geschehen zu lassen, und zu einer Zeit, da der junge Mensch sich mit den Fragen über sein Woher und Wohin zu beschäftigen beginnt — um das vierte Lebensjahr also, ein zweites Mal gegen das achte Lebensjahr und ein drittes Mal, und zwar in einem besonders heftigen Maße, zur Zeit der Pubertät. Aber auch in diesen Fällen ist bloße Aufklärung „kein besonderer Kunstgriff, keine eigene Methode mit ihren eigenen guten Folgen und Hoffnungen, sondern ausschließlich Bestandteil, eine konkrete Bewährung des selbstverständlichen Prinzips der allgemeinen Achtung des Kindes und der sich daraus ergebenden “Aufrichtigkeit ihm gegenüber“. (Dr. Siegfried Bernfeld.) Wobei noch hinzuzufügen ist, daß durch die Aufklärung dem Kinde nicht nur gewisse Spannungsgefühle genommen, sondern auch die Nährstoffe zur Bildung von Neurosen entzogen werden — wie sie bei jedem ungelösten beziehungsweise bei jedem als unlöslich erscheinenden Problem aufzutreten pflegen.

Nicht gleichgültig jedoch ist es, wie die Aufklärung vor sich geht. In der Art des Wie liegt nämlich die Gefühlsnote für den Aufzuklärenden, die Beleuchtung sozusagen, die ihn den Gegenstand entweder als einen des nur Allzu-Mensch-lichen, der schrankenlosen Genußbefriedigung oder als etwas, dessen man in Ehrfurcht und Liebe zu gedenken hat, erscheinen läßt. Grund genug, auch an dem Woher der Aufklärung nicht achtlos vorüberzugehen — war doch die gegenteilige Annahme davon nur in einem theoretischen Sinne gemeint — und es so weit wie möglich von der Gasse — der Gosse — entfernt zu halten. Elternhaus, Schule, Priester, Arzt — sie sind die einzig berechtigten Vermittler aller Gedanken, die dem jungen Menschen das Rüstzeug für die richtige Einstellung seinem Triebleben gegenüber geben sollen. „Wieso dem so ist, war mir lange Zeit ein Rätsel, bis mir einst eine Schülerin mitteilte: .Wenn Sie es mir sagen, dann kann man es glauben, und dann ist es nicht so dreckig.' “ (Hans Zulliger, Ittigen. In dem Artikel: „Eltern, Schule und sexuelle Aufklärung.“) Aber all das Wie und Woher, Wo und Wann genügt nun natürlich noch immer nicht, den Menschen in seinen späteren Entscheidungen, vor die er sich bei den jeweiligen Äußerungen seines Trieblebens ja stets gestellt sieht, günstig zu beeinflussen oder ihm gar brauchbare Stütze zu sein.

Damit also wäre Aufklärung überflüssig oder am Ende sogar schädlich? Sicherlich nicht, selbst wenn man vorerst an nichts anderes dabei denkt, als an die ihr innewohnende Eigenschaft, Spannungen aufzulösen oder an die Verpflichtung zur Wahrheit besonders auch dem eigenen Kinde gegenüber. Jedoch wird Aufklärung allein, wenn nicht zugleich mit einem starken Stimmungsinhalt, mit einem heftigen Gefühl gekoppelt, nichts als Stückwerk bleiben, nichts als reine Wissensvermittlung, ein Beginnen ohne Belang für ein von den meisten dabei doch irgendwie erwünschtes moralisches Prinzip. Keine noch so wunderbar durchdachte Aufklärung ist imstande, von sich aus in das Triebleben einzugreifen. Erst angeschlossen an ein starkes Gefühl, an das des Glaubens zum Beispiel, jedoch auch an solche außerreligiöser Natur, wie an das der Verantwortung vor dem Volk, das der Verantwortung vor seinen Nachkommen, um nur einige davon zu nennen, an das der Reinheit, des Stolzes, des Ehrgefühls, kurz gesagt, an alles, was stimmungsmäßig stark genug ist, den Menschen von Grund auf zu beherrschen, wird die Aufklärung ihren eigentlichen Sinn beziehen. Nur so wird sie ihre Aufgabe erfüllen: Wissensstütze zu sein im ganzen einer sittlich ausgerichteten Erziehung. Und „darum ist diejenige Sexualpädagogik die beste, die nur das Allernotwendigste über sexuelle Dinge redet, die dagegen alle diejenigen Charakterkräfte und Gewohnheiten zu wek-ken versteht, welche den jungen Menschen von selbst in die richtige geistige Haltung gegenüber den erwachenden Trieben setzt.. .* (Fr. W. Foerster.)

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