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Ist der freiheitliche Staat an seiner Grenze?

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Wenn die Vermittlung ethischer Werte bei vielen Schülern nicht mehr im Religionsunterricht erfolgt, dann muß eine andere Lösung überlegt werden.

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Wenn die Vermittlung ethischer Werte bei vielen Schülern nicht mehr im Religionsunterricht erfolgt, dann muß eine andere Lösung überlegt werden.

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Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf säkularisierter Ebene - in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.” - So schreibt Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Buch „Becht, Staat, Freiheit” (Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1992,112f).

Dieses sogenannte „Böckenförde-Paradox” soll der Ausgangspunkt einiger Überlegungen zu den Fragen rund um die Einführung eines Ethikunterrichts sein. „Ethik” ist nicht nur die Frage nach dem richtigen Verhalten der Menschen und nicht nur die Darlegung der verschiedenen Antworten darauf (wie ein Angebot im Supermarkt), sondern die Lehre vom guten sittlichen Leben. Das Thema eines entsprechenden Unterrichts* wären also die Regeln des Guten und Richtigen, die Sitten (lat. mores, daher auch Moral) oder die Gesamtheit derselben, die Sitte (griech. ethos, daher Ethik), nicht nur die Diskussion darüber. Nur so kann der Ethikunterricht der gesetzlich festgelegten Aufgabe der österreichischen Schule dienen, „an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen ... mitzuwirken” (2 SchOG). Der nötige inhaltliche Konsens müßte spätestens bei der Einführung eines Ethikunterrichts erreicht sein und dem Lehrplan zugrunde liegen. Die Lehrpersonen können ihn nicht herstellen.

Das besagt nicht nur, daß es keine „wertfreie Erziehung” gibt und geben kann, sondern daß in den Schulen auch in ausdrücklicher Form eine Erziehung zu diesen Werten zu erfolgen hat. Derzeit geschieht dies vor allem durch den staatlich gesicherten Religionsunterricht, in dem der ethische Grundkonsens schon vorhanden ist und der außerdem eine letzte Begründung der sittlichen Verhaltensweisen vermittelt. Wie eine rationale Begründung des Bationalen nicht möglich ist, so kann auch kein ethisches System aus sich heraus begründet werden. Daher ist es für den Unterricht einer ethischen Wertordnung von großem Vorteil, wenn auch deren Grundlegung in den transzendenten Voraussetzungen des mitmenschlichen Lebens erschlossen wird. Daß dabei - wie übrigens auch in einem Ethikunterricht - die Persönlichkeit und das glaubwürdige Zeugnis der Lehrperson eine ausschlaggebende Bedeutung haben, versteht sich von selbst. Somit hat der Religionsunterricht, der mehr ist als bloße Religionskunde (diese gehört auch zu seinem Lehrstoff), eine bleii bende Stellung in der Erziehungsaufgabe des Staates, der in diesem Bereich zwar - gerade um der Freiheit willen - nur subsidiär, aber so sehr wohl tätig sein soll.

Wenn die nötige ausdrückliche Vermittlung ethischer Werte bei vielen Schülerinnen und Schülern nicht mehr im Beligionsunterricht erfolgt (nicht nur wegen der Einflüsse unserer permissiven Gesellschaft und der schwindenden Kirchlichkeit oder hier und da wegen einer Abmeldung auf Grund des Ungenügens der Lehrperson, sondern oft schon deshalb, weil — eine Freistunde angenehmer ist als eine häufig am Rand angehängte Religionsstunde), dann muß für die betreffenden jungen Menschen eine andere Lösung überlegt werden. Ihnen muß Ethik auch ohne deren Grundlegung in einer Religion in einem Parallelunterricht vermittelt werden. Die mühsame Überzeugungsarbeit für diesen wesentlichen Teilbereich ihres Faches, die unsere Religionslehrerinnen und -lehrer bisher nicht nur im Auftrag ihrer Kirchen, sondern im Dienst an der ganzen Gesellschaft geleistet haben, wird damit auch zum Anliegen eines eigenen Fachs (ohne die Konkurrenz einer Freistunde). Jetzt erkennt der Staat, daß er diesbezüglich eine umfassende Verantwortung für alle und daher auch für jene Jugendlichen, die keiner Kirche angehören oder deren Dienst nicht annehmen wollen, wahrzunehmen hat. Daher ist es nicht richtig, einen solchen parallelen Ethikunterricht als bloßen „Ersatz” für den Religionsunterricht anzusehen. FLr ist letztlich eine Konsequenz der Religionsfreiheit.

Eine erste Folgerung daraus ist aber, daß das „Böckenförde-Paradox” neu interpretiert werden muß (und dann nicht mehr paradox ist): Der freiheitliche, säkularisierte Staat kann die Voraussetzungen, von denen er lebt, zwar nicht garantieren, aber auch er muß für sie sorgen, wenn er überleben will. Der moralische „Grundwasserspiegel” der Gesellschaft ist so tief abgesunken, daß nicht mehr genügend Ethos an die Oberfläche gelangt, so daß für seine Hebung etwas getan werden muß. Die Beserven aus der christlichen Tradition reichen, sicher auch durch Mängel der Kirchen, nicht mehr für die ganze Gesellschaft aus. Wobei man sich fragen muß, ob Europa jemals christlich war und nicht großteils nur christlich verbrämt, indem das Christentum au-

Die Zeiten sind vorbei, da man die Frage eines Schulunterrichtsfaches Ethik als lästiges Aufbegehren notorisch Antiklerikaler vom Tisch wischen konnte. Zwar wird das Thema beharrlich nur von einer Kleinstpartei - dem Liberalen Forum -, die auch durchaus antiklerikale Reflexe internalisiert zu haben scheint, aufs Tapet gebracht. Doch längst schon haben Publizisten, Pädagogen, Philosophen und, jawohl, auch Theologen begonnen, sich des Themas zu bemächtigen. Der Fl 'RÖHE ist das Thema bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr die „Debatte”-Doppelseite wert (vgl. Nr. 6/1997): die Grundfrage nach der Rolle der Religion im (vermeintlich?) säkularen Staat wird sich auch hierzulande nicht von selbst erledigen. toritativ vorgegeben war. Daher genügen in einer Zeit, in der die Menschen mit Recht ihre Mündigkeit und Freiheit einfordern, die bloße Tradition und ihre Weitergabe auf Grund einer Kindertaufe ohne (nachgeholte) eigene Entscheidung nicht mehr.

Moralische Substanz

Der freiheitliche Staat, der meinte, sich um seine „inneren Regulierungskräfte” nicht kümmern zu müssen oder zu dürfen, weil er sie nicht „mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots garantieren” kann, ist damit an seine Grenze gestoßen. Er kann die nötige „moralische Substanz” zwar nicht erzwingen - das ist das bleibende positive Er-gebnis der Neuzeit -, aber er muß seine Bürgerinnen und Bürger in Freiheit für sie zu gewinnen suchen (das ist so mühsam wie die Erziehung in der Familie und im Religionsunterricht). Er kann diese Aufgabe nicht mehr einfach den Familien und den Kirchen oder humanistischen Gruppierungen überlassen, ohne selbst auch gemeinsame ethische Wertordnungen zu entwickeln und sich für sie einzusetzen. Die bloßen „Zäune” der Gesetze mit ihren Strafandrohungen sind dafür zu wenig. Man kann das auch so deuten: Die Neuzeit als Phase der Pubertät, in der zwar die Rechte der Freiheit eingefordert, aber nicht oder nur teilweise ihre Pflichten übernommen werden (Wer hat schon jemals die den Menschenrechten entsprechenden Menschenpflichten ausformuliert?), neigt sich, unweigerlich ihrem Ende zu. Der Pluralismus hat zu einer Vergleichgültigung geführt. Der gemeinsame Nenner ist zu klein geworden. In der „Postmoderne” zeigen sich die Symptome dieser Krise. Gibt es einen Ausweg?

Böckenförde fährt fort: „Der Staat kann versuchen, diesem Problem zu entgehen indem er sich zum Erfüllungsgaranten der eudämonisti-schen Lebenserwartungen der Bürger macht und daraus die ihn tragende Kraft zu gewinnen sucht. Das Feld, das sich damit eröffnet, ist allerdings grenzenlos. Denn es handelt sich dann nicht mehr darum, daß der Staat vorsorgende, sozialgestaltende Politik betreibt, die das Dasein seiner Bürger sichern soll - diese Aufgabe ist für ihn unverzichtbar —, sondern daß er sein ,Um-willen', seinen ihn legitimierenden Grund eben darin zu finden sucht. Der Staat, auf die inneren Bindungskräfte nicht mehr vertrauend oder ihrer beraubt, wird dann auf den Weg gedrängt, die Verwirklichung der sozialen Utopie zu seinem Programm zu erheben.”

Genau diesen Weg ist der Staat bisher gegangen. Das hat einigermaßen funktioniert, solange der zu verteilende Kuchen - oft durch unlautere Mittel wie Aufnahme von Schulden auf Kosten künftiger Generationen — immer noch etwas größer wurde. Die eu-dämonistischen Wahlversprechen der Politiker und nicht die Notwendigkeiten sozialer Verantwortung waren dann der Maßstab, nach dem gewählt wurde. Dieser Weg ist nicht mehr gangbar, wenn der Kuchen schon auf Grund der „Grenzen des Wachstums” gleich bleibt oder sogar kleiner wird. Auf der Basis einer bloß egozentrisch motivierten, also ich-be-zogenen Solidarität auf Gegenseitigkeit tritt dann an die Stelle der Devise „Wir sitzen alle in einem Boot” (in wechselseitiger Verschränkung der Interessen) das Motto „Bette sich, wer kann” (vgl. meinen gleichnamigen Beitrag in FURCHE 10, 9. März 1995, S. 14). Das führt zum Zerfall der Gesellschaft in Interessengruppen und einzelne. Der „Gesellschaftsvertrag” hält nicht mehr.

Daher die weiteren - fast prophetischen- Sätze von Böckenförde: „Man darf bezweifeln, ob das prinzipielle Problem, dem er auf diese Weise entgehen will, dadurch gelöst wird. Worauf stützt sich dieser Staat am Tag der Krise? So wäre denn noch einmal -mit Hegel - zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.”

Was soll also der Staat in der Zeit der Krise tun? Er müßte eine höhere

Sittlichkeit bei seinen Bürgerinnen und Bürgern voraussetzen können, eine ich-und-du-bezogene, also relationale Solidarität aus Liebe zum Anderen, um dessentwillen wie zu sich selbst. Und das nicht nur bei einigen Idealisten oder Utopisten, sondern als Grundhaltung bei (fast) allen. Denn auch diese egalitäre und prinzipiell universale Solidarität ist auf Dauer nur in Gegenseitigkeit möglich. Was hindert uns aber an dieser Liebe? Es ist die Angst um unser hinfälliges (kontingentes) Dasein, das wir nicht selbst sichern können, und die Angst vor den anderen, der „Geschwisterneid” (A. Mitscherlich). Diese Kontingenz können wir nicht selbst „bewältigen” (H. Lübbe) oder gar „ausschalten” (N. Luhmann). Das wäre genau der „Gotteskomplex” (H. E. Bichter), der uns in die Krise gebracht hat. Wir können diese tiefsten Ängste, die wir meist verdrängen und nicht einmal uns selbst eingestehen, nur aushalten. Dazu braucht es aber eine leise Hoffnung oder ein Vertrauen, daß unser Dasein mehr ist als ein sinnloser Zufall eines absurden Schicksals, und daß es auf einem guten Grund beruht. Dann wird Liebe möglich. Außerdem setzt eine herrschaftsfreie Beziehung zwischen mehreren auf gleicher F,bene letztlich einen transzendenten Grund voraus, der sie trägt und grundsätzlich sinnvoll macht. Daher kommt die nötige Sittlichkeit nicht um die Frage nach Gott herum. Es gibt keinen Humanismus, der nicht für Gott offen ist, zumindest an der Gottesfrage leidet. Die religiöse Frage ist mit Hegel zu stellen, wie Böckenförde sagt. Auch im Ethikunterricht.

Placebo-Glaube

Die religiöse Frage ist aber nicht auf die Weise von Hegel zu beantworten, durch eine Selbsterlösung mittels Be-ligion (die Perversion von Beligion). Der größte Fehler wäre daher ein „pseudoreligiöser Kurzschluß”, der aus dieser Not eine Tugend macht und Beligion nur damit begründet, daß sie als Grundlage der Sittlichkeit nötig ist. Dann hätte die Beligions-kritik recht, und der Glaube wäre ein Placebo. Diesen Fehler hat auch die Kirche vielfach begangen. Die Versuchung dazu ist heute auf Grund der Krise wieder größer. Das zeigt auch der Zustrom zu fundamentalistischen Gruppen und Sekten, der letztlich eine Begression in Abhängigkeiten bedeutet; auch diesbezüglich kann der freiheitliche Staat nicht alles zulassen, was sich als „religiös” ausgibt. Christlicher Glaube hingegen beruht auf der Erfahrung jener Menschen, die sich aus freiem Willen in einer gemeinsamen Praxis auf die Botschaft Jesu von der Liebe Gottes einlassen und dabei erleben dürfen, daß sie sich bewahrheitet. Bei einer solchen klaren Abgrenzung ist es durchaus angebracht, daß Beligionslehrerinnen und -lehrer auch Ethik unterrichten. Die „Gefahr” einer religiösen Beeinflussung ist kein Gegengrund. Jede Überzeugung der Lehrer(innen), auch eine nicht-religiöse, beeinflußt die Schüler(innen). Sie wäre dann ebenfalls nicht erlaubt. Der Ethikunterricht soll - wie übrigens ein guter Beligionsunterricht auch - religionskritisch sein, aber nicht antireligiös. Das wäre nicht ethisch.

Was bleibt, ist eine Hoffnung: Vielleicht kommt nach der Pubertätsphase der Neuzeit eine neue Zeit der wirklichen Reife. Dann wäre es auch für die jungen Menschen leichter, erwachsen zu werden. Ein guter Ethikunterricht kann dazu ein wichtiger Beitrag sein.

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