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Ist die Jugend materialistisch?

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Das, was hier der junge Dichter sagt, ist wohl mehr als eindeutig, und es bedarf keines wie immer auch gearteten Kommentars, denn sein Bekenntnis spricht wohl für sich. Nachdem er aber auf seine eigene Art über jene Gedanken, die seine Generation beschäftigen, gewissermaßen eine Beichte ablegt, geht er zum Angriff über. Er widersetzt sich der immer wiederkehrenden Anschuldigung, die — seinen Worten nach — meistens von jenen am ehesten ausgesprochen wird, die „sich krankhaft bemühen, für ihre Kinder die meisten materiellen Vorteile herauszuschlagen“, die heutige ungarische Jugend wäre materialistisch. Er führt eine ganze Reihe von Fällen an, besonders aus den Kreisen der Intelligenz, um zu illustrieren, daß die heutige ungarische Jugend in Wirklichkeit Not leide. Er schreibt: „Es ist eine oberflächliche Feststellung, aber man kann am ehesten die Hebung des Lebensstandards an der steigenden Zahl der Autos messen. Gibt es eine allgemeine Hebung des Lebensniveaus? Man kann es behaupten. Und trotzdem, können wir heute noch von Not sprechen? Ja, es gibt Not, und wir sollen auch darüber sprechen.“ Im Anschluß daran analysiert der junge Dichter ausführlich die Lebenshaltungskosten der jungen ungarischen Intelligenz, die im Durchschnitt 1300 Forint — nach“,-dem inoffiziellen Geldwert keine 700 Schilling — monatlich erhält. Von dieser Summe müssen für Wohnung 200 Forint, für Essen in Werkskantinen und billigsten Kleinstrestaurants mindestens 800 Forint und für Bekleidung im Schnitt mindestens 300 bis 400 Forint monatlich ausgegeben werden. Nach Budas Berechnungen bleibt also dem jungen alleinstehenden ungarischen Intellektuellen von seinem Monatsgehalt kein Heller für Reisen, Bücher, Theater- oder Kinobesuch, Zigaretten, Getränke und persönliche Bedürfnisse. „Allein daraus kann man ersehen, daß das Monatsbudget eines jungen Intellektuellen, der nur auf sein Gehalt angewiesen ist,allmonatlich mit einem schweren Defizit abgeschlossen wird. In dem Fall jedoch, wenn er es auf sich nimmt und eine Familie gründet, wird die Lage einfach verzweifelt. Wenn beide verdienen, reichen ihre Gehälter knappest dazu aus, um das Lebensminimum zu sichern. Für ein Kind wäre bereits ein drittes Gehalt nötig. Es ist natürlich, daß unter solchen Umständen die Eltern die Erziehung eines Kindes an ihrem Magen, ihrer Kleidung und an ihren kulturellen Bedürfnissen einsparen. Mit welchem Erfolg, darüber spricht nicht die Statistik, sondern darüber könnten die Ärzte und die Schätzmeister der Pfandleihanstalten aussagen.“ Wie gesagt, ein recht düsteres Bild, welches vom Autor folgendermaßen erklärt wird: „Die Not von heute kann wie folgt definiert werden: es gibt keine Arbeitslosigkeit, aber die Gehälter reichen bei weitem nicht aus. Es gibt keine Existenzangst, aber die meisten Menschen sind dessen sicher, daß ihr halber Monatslohn für keine zwei Wochen ausreicht. Hungernde, zerlumpte Gestalten sieht man heute nicht mehr, aber Tatsache ist, daß man mit einem Durchschnittsgehalt seine MinimalbedürrntsSe** Kosten anderer Lebensnotwendigkeiten erkaufen kann.“

In weiterer Folge seiner Analyse meint der Autor, daß diejenigen, die nicht in der Hauptstadt leben, also die ländliche Intelligenz darstellen, in gewisser Hinsicht besser gestellt sind. Allerdings bleibt ihnen für alle Ewigkeit jeder kulturelle Aufstieg verschlossen.

Am Ende seines mehr als deprimierenden Berichtes meint der ungarische Dichter, aus dieser Sackgasse führen mehrere Auswege. Erstens müßte die Arbeit der jungen Intelligenz mehr geachtet und auch materiell besser dotiert werden, wobei in erster Linie den Pädagogen bessere Gehälter gezahlt werden müßten. Weiters müßte der schöpferische Geist mehr freien Raum erhalten. Bei dieser Forderung rüttelt er energisch an einem Tabu aller kommunistischen Systeme, wonach unbegabte Parteigünstlinge in führenden Stellungen sitzen, indem er meint: „Es dürfte nirgends gestattet werden, daß führende Personen mit geringer Schulbildung und Intelligenz ihnen geistig Überlegenen vorstehen.“ Mit einem Seitenhieb auf den nicht gerade mustergültigen Lebenswandel der „neuen Klasse“ meint der Autor: „Wir müssen auf die Sauberkeit im öffentlichen Leben achten und jede Form der Lüge von uns weisen. Das Maß, nach dem die heutige Jugend mißt, ist nicht das Ideal, sondern das Vorbild. Kann daher von ihr Gutes erwartet werden, wenn sie schlechte Beispiele vorgelegt bekommt?“ Er schließt seine Enthüllungen über die Probleme der heutigen jungen ungarischen Intelligenz mit den Worten: „Die Grundvoraussetzungen einer Koexistenz von Generationen und Klassen ist Vertrauen und Aufrichtigkeit. Die Jugend erwartet Antwort — nicht nur Worte.“

In der gleichen Nummer der zitierten Zeitschrift finden wir einen anderen Beitrag zur laufenden Debatte aus der Feder des Schriftstellers Lajos Baräth, eines Vertreters der älteren Generation, in welchem die Gründe für den Zynismus der heutigen ungarischen Jugend bloßgelegt werden. Da heißt es: „Wir sprechen viel über den Zynismus, der besonders bei der Jugend festzustellen ist. Wenn wir jene Erfolge, die wir bei der atheistischen Aufklärungstätigkeit verzeichnen können, aufzählen, dürfen wir zufrieden sein. Die Menschen schütteln die Religion ab. Aber geben wir ihnen für den Glauben einen Ersatz? Die Mehrzahl der Menschen behauptet heute von sich, nicht an die Existenz Gottes zu glauben, aber wie viele können schon wissenschaftlich erklären, warum sie nicht an Gott glauben? Bei der Überzahl geht es um eine bloße Negation und nicht um eine tiefe idealistische Erklärung. Wir müssen einen Ersatz für die Religion finden, eine marxistische Ideologie, eine materialistische Philosophie und Ästhetik. Die Jugend ist in der schwierigsten Lage. In der Schule wird auf der marxistischen Grundlage gelehrt, zu Hause darf die Großmama noch beten, vom Vater wird das Kind in die Kirche geschickt, und wen trifft es meistens in der Kirche an? Jenen Menschen, der ihn am Vormittag in der Schule die Nichtexistenz Gottes gelehrt hatte.“

Düster ist das Bild, das ungarische Kommunisten von der heutigen Jugend entwerfen. Wo liegt der Fehler? Die Antwort darauf sollen nicht wir, sondern die zitierten kommunistischen Autoren selber geben: in der Unfähigkeit des Regimes, das sich auf Marx beruft, aber statt der zerstörten, althergebrachten geistigen und moralischen Werte nichts an gleichwertigem „Ersatz“ zu bieten vermag. Die Ausweglosigkeit aus dieser Situation haben die Autoren selber zugegeben. Deshalb sei zum Abschluß der letzte Satz aus dem Beitrag von Lajos Baräth zitiert „Warum wollen wir daher über die heutige Jugend den Stab brechen? Haben wir dazu ein Recht und lohnt es sich überhaupt? Kaum!“

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