Jede(r) ist etwas Besonderes

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Auf ein Wort

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Auf ein Wort

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Schulschluss, Zeugnisverteilung, Abschlussfeiern: überall in der Welt die gleiche Gefühlslage bei den Beteiligten. Eine der Reden, die zu solchen Anlässen gehalten werden, wurde bereits über 1,6 Millionen Mal im Internet abgerufen. Es ist jene des Bostoner College-Lehrers David McCullough. Nachdem er einleitend mit dem provokanten Satz "Ihr seid nichts Besonderes“ alle Aufmerksamkeit für sich gewonnen hat, platziert er nach einem rhetorischen Wechselbad von Ernsthaftigkeit und Humor seine eigentliche Botschaft: "You are not special because everyone is“ - eine paradoxe Ermunterung zu eigenständigen Lebens- und Werteentscheidungen. "Besteigt den Berg, damit ihr die Welt sehen könnt, und nicht, damit euch die Welt sehen kann!“

Entwertung von Leistungen

In totalem Kontrast zu dieser liebevollen rhetorischen Wegzehrung sehe ich vor mir das etwa zeitgleich in unseren Zeitungen auftauchende Foto von den zum Medizin-Aufnahmetest Antretenden. In den überdimensionalen Hallen der Wiener Messe sitzen sie isoliert an Hunderten vereinzelten Tischen, unter höchstem Zeitdruck einem strengen Reglement unterworfen, wissend, dass sie auch bei sehr guten Leistungen nur eine 15%-ige Chance haben. Auch jene, die an erstklassigen Gymnasien hervorragend abgeschlossen haben, bekommen keinen Bonus. Diese offene Entwertung ihrer bisherigen Leistungen wird einfach in Kauf genommen.

In allen Bereichen, in denen es um Qualifikation geht, gilt innerhalb der EU das "Ursprungslandprinzip“: Wer im eigenen Land - etwa als Handwerker - eine Berufsberechtigung hat, den berechtigt sie auch in allen anderen Mitgliedsstaaten. Unsere Bildungspolitiker und die EU waren jedoch nicht in der Lage, diesen Grundsatz auch auf Studienvoraussetzungen anzuwenden. Deshalb tritt man nun selbst mit Maturazeugnissen, die in Deutschland locker für die Zulassung gereicht hätten, in Konkurrenz zu Leidensgenossen, die dort die strengen Numerus-clausus-Voraussetzungen nicht erfüllen konnten.

In anderen Massenstudien, für die Aufnahmetests nicht gestattet sind, läuft die Selektion über Knock-out-Prüfungen und Schikanen bei den Anmeldemodalitäten. Fast alle großen Prüfungen werden im "Multiple Choice“-Verfahren absolviert, jedenfalls aber schriftlich. Tausende Matrikelnummern treten gegeneinander an, keine Persönlichkeiten, denn auf die scheint es nicht anzukommen.

Versteckter Numerus clausus

Die eilfertige Übernahme des dreistufigen "Bologna-Systems“ - Bachelor und Master vor dem Doktorat - entpuppt sich erst recht als versteckter Numerus clausus. Denn wer seinen Bachelor absolviert hat, hat damit an derselben Universität noch keineswegs automatisch die Zulassung für ein Masterstudium in der Hand.

Was sich in unserem Bildungssystem in einem von parteipolitischen Denkblockaden verbarrikadierten Klima abspielt, ist einer aufgeklärten Gesellschaft in einem der wohlhabendsten Staaten der Welt wahrlich nicht würdig. Die langen Ferien mögen Zeit zur Einsicht geben, dass sich unsere jungen Menschen mehr Zuwendung, Professionalität und Ernsthaftigkeit verdienen.

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