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Jedes behinderte Kind kann integriert werden

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Der Erziehungswissenschafter und Psychologe Volker Schönwiese übt massive Kritik an den Schulbehörden. Obwohl die Integration von behinderten Kindern in Schulen (siehe dazu auch FURCHE Nr. 45) gesetzlich verankert wurde, geschieht so gut wie gar nichts.

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Der Erziehungswissenschafter und Psychologe Volker Schönwiese übt massive Kritik an den Schulbehörden. Obwohl die Integration von behinderten Kindern in Schulen (siehe dazu auch FURCHE Nr. 45) gesetzlich verankert wurde, geschieht so gut wie gar nichts.

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DIEFURCHE: Welche Rahmenbedingungen müssen für eine erfolgreiche Integration von behinderten Kindern in Schulen geschaffen werden Volker Schönwiese: An erster Stelle sind sicherlich die Integrationsklassen zu nennen. Das heißt, Schulklassen mit maximal vier behinderten Kindern und zwei Lehrern. Wichtig wären natürlich Begleitmaßnahmen, die bei uns großteils noch fehlen. Das heißt, Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer und vor allem, daß dieses Thema in den pädagogischen Akademien endlich unterrichtet wird.

DIEFURCHE: Obwohl Integration seit diesem Schuljahr auch in den Hauptschulen und Unterstufen der AHS gesetzlich verankert wurde, ist das bisher noch nicht der Fall? Schon wiese: Nein, nur ganz selten. In Wien und in der Steiermark gibt es Initiativen. Aber die meisten pädagogischen Akademien reagieren nur extrem zögernd.

DIEFURCHE: Fürchten Sie nicht, daß viele Lehrer überfordert sind? Sie haben ja kaum Erfahrung auf diesem Gebiet.

Schönwiese: Lehrer haben einen Beruf, der auch Fortbildung erfordert. Lehrer sein heißt nicht, bei den pädagogischen Konzepten der fünfziger Jahre stehen zu bleiben. Auch Lehrer haben immer wieder erlebt, daß neue Dinge eingeführt werden. Problematisch wird es nur, wenn sie dabei nicht unterstützt werden. Aber auch wenn wir vollständige Integration hätten, was ich mir wünsche, würde es nur ganz wenige Lehrer tref -fen, die dann tatsächlich behinderte Kinder unterrichten. Und da hätte die Schulbehörde sehr wohl Gelegenheit, jene Lehrer in Schulen mit behinderten Kindern einzusetzen, die das wollen und die auch die entsprechende Motivation mitbringen. Wenn die Schulbehörde nicht flexibel reagiert, dann gibt es natürlich Situationen, daß Lehrer behinderte Kinder unterrichten müssen, die das gar nicht wollen und können, und dann gibt es auch entsprechende Dramen.

DIEFURCHE: Wie stehen Sie zu dem Begriff der unteilbaren Integration, also daß jedes Kind, egal wie schwer die Behinderung ist, integriert werden kann? schönwiese: Sofern unteilbare Integration heißt, daß das Recht für alle existiert, stehe ich voll dahinter. Pragmatisch muß man dazu sagen, daß Integration eine E.nt-wicklungsaufgabe ist und man nicht bei jeder Situation von vornherein weiß, wie das gehen kann. Integration ist etwas, was gelernt und entsprechend unterstützt werden muß. Es gibt erstaunliche Erfolge mit Kindern, wo vorher eigentlich nicht absehbar war, daß die Integration funktionieren könnte. Wenn unteilbar aber heißt, alle Kinder in Integrationsklassen, und wir kümmern uns nicht mehr darum, weil eh schon alles geregelt ist, ist es eine Verhinderungstaktik. So kann es natürlich nicht gehen.

DIEFURCHE: Was heißt Verhinderungstaktik? schönwiese: Das Schulsystem ist ein riesiger Dampfer. Und den in Bewegung zu setzen ist schwer. Viele Inspektoren und Direktoren sind am Bewahren interessiert und weniger am lebendigen Weiterentwickeln. Insofern gibt es schon viele Verhinderungsstrategien, die auch immer wieder an Einzelfällen nachzuweisen sind. Ich denke, die Schule muß eindeutig experimentierfreudiger werden. Sonst ist sie sowieso in dieser Form, ich möchte nicht sagen, dem Untergang geweiht, aber so kann sie eben nicht weiter existieren. Überall spricht man von Flexibilisierung, und die Schule muß da auch lernen.

DIEFURCHE: Sind Sie mit dem jetzigen Integrationsgesetz einverstanden? schönwiese: Ich hätte mir schon mehr gewünscht. Vor allem, daß die wissenschaftlichen Begleitstudien, die durch das Ministerium selbst gemacht wurden, mehr berücksichtigt worden wären. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, daß von den erprobten Modellen eindeutig die Integrationsklasse zu bevorzugen ist. Und daß die, aus teilweise politischen Gründen am meisten favorisierte, wenn auch nicht am meisten durchgeführte Form, nämlich die der Kooperationsklassen, am schlechtesten bewertet wurde.

DIEFURCHE: Wie wirken sich Integrationsklassen auf nicht behinderte Kinder aus? Ist der Lernefolg besser oder schlechter? schönwiese: Wenn man die Noten hernimmt, gibt es keine Unterschiede. Es wird dabei aber nicht das soziale Lernen berücksichtigt. Und das ist der Vorteil von Integrationsklassen. Inhaltliches Lernen wird mit sozialem Lernen verknüpft. Ich denke, wir alle haben Erfahrungenwie in der Schule gelernt wird. Dort, wo man aus-,, wendig gelernt hat, hat man den Stoff für die Prüfung gekonnt. Danach hat man es so schnell wie möglich wieder

Volker Schönwiese, selbst Rollstuhlfahrer, ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Er beschäftigt sich seit seinem Studium mit der Integration von behinderten Menschen. Derzeit arbeitet Schönwiese am Aufbau einer Internet-Dokumentation zu Integrationsfragen. Darin enthalten sind Gesetzestexte, wissenschaftliche Publikationen und Zeitschriften, die sich mit dem Thema Integration auseinandersetzten. http:ljinfo.uibkac.at jclc6jc60)jbidok vergessen. Dort, wo man zusammen mit anderen Kindern gelernt hat oder weil der Stoff einen interessiert hat, hat man es sich ein Leben lang gemerkt und trotzdem die gleiche Note bekommen, weil es eben nur ein richtiges Ergebnis gibt. Insofern hängen soziales Lernen und Inhaltslernen sehr stark zusammen. Und da vermute ich schon, daß langfristig die Integrationsklassen im Vorteil sein werden. Vor allem auf den Reruf bezogen, denn man wird viel mehr als heute im Team neue Dinge entwickelt müssen.

DIEFURCHE: Es gibt Kritiker, die meinen, schwer behinderte Kinder wären in Kleingruppen besser aufgehoben, da man sie dort gezielter fördern könnte. schönwiese: Die Erfahrungen zeigen, daß sogenannte schwerstbehin-derte Kinder weniger das Problem sind, weil zwischen den Kindern keine Mißstimmung herrscht. Auch wenn es Konflikte gibt, sind sie mit Hilfe der Lehrpersonen zu bereinigen. Das ist etwas, was behinderte

Kinder in Sonderschulen, weil sie nur von anderen behinderten Kindern umgeben sind, auch mit den besten Therapien nicht lernen können. Den Umgang mit nicht behinderten Menschen zu üben, ist aber sehr wichtig für das tägliche Leben von behinderten Menschen. Die speziellen Methoden und Fördermöglichkeiten in Sonderschulen, sofern sie existieren, sind außerdem in die Regelschulklasse übernehmbar. Es wird sicherlich Situationen geben, wo wir auch einmal nicht wissen, wie es gehen kann. Aber im Sinne von Erfahrungsprozessen sind-das ganz wichtige Lernanstöße, wenn wir lernen wollen, besser zu unterrichten.

DIEFURCHE: Ist es sinnvoll, wenn schwer geistig behinderte Kinder in eine AHS gehen? schönwiese: Die Lehrpläne von AHS-Unterstufe und Hauptschule sind gleich. Es gibt Regionen, wo die Mehrheit der Kinder in eine AHS geht. Warum sollen dann ausgerechnet die behinderten Kinder dort nicht mitgehen dürfen? Es gibt auch Rei-spiele, wo eine AHS eher bereit gewesen wäre, behinderte Kinder aufzunehmen und wo das dann von den Schulbehörden unterdrückt wurde, weil man es nicht will ...

DIEFURCHE: So wie das Gesetz derzeit ist, können ein schwer geistig behindertes, ein gehörloses und ein sehschwaches Kind in einer Kasse zusammenkommen WIre es nicht besser, Kinder mit der gleichen Art von Behinderung zusammenzufassen und speziell für diese Behinderung entsprechend geschulte Lehrer einzusetzen? schönwiese: Das ist ein Extremfall mit Kindern, die hohe Unterstützung brauchen. Diese Kinder sind aber äußerst selten. Also warum sollen an einem Ort, in der gleichen Altersstufe alle vier Kinder in einer Klasse erscheinen?

Meine Einschätzung ist, daß es im allgemeinen nicht nötig ist, gleiche Behinderungsarten zusammenzufassen. Es wird auch manchmal der Physiotherapiebedarf von körperbehinderten Kindern überschätzt. Denn Kinder lernen, sich dann zu bewegen und ihre Möglichkeiten entsprechend auszuschöpfen, wenn sie es wollen. Wenn sich ein Kind nicht bewegen will, nützt auch die beste Therapie nichts. Kinder wollen sich dann bewegen, wenn sich andere Kinder bewegen. Da wäre es für mich eher eine Frage eines gemeinsamen Turnunterrichts, als einen eigenen Therapieraum bereitzustellen.

Im allgemeinen würde ich sagen, daß unterschiedliche Arten von Rehinde-rung sogar ein Vorteil sind. Es gibt vielleicht eine Ausnahme, und das sind gehörlose Kinder. In diesem Fall kann es vielleicht interessant sein, ein zweites Kind in der Klasse zu haben. Denn auch erwachsene Gehörlose fordern das Recht ein, mit anderen Gehörlosen zusammen sein zu dürfen. In diesem Bereich wird auch noch am meisten diskutiert, wie Integration am besten funktionieren kann. Es wird immer gesagt, geistig behinderte Kinder sind das Problem. Das stimmt nicht. Wahrnehmungsbehinderung ist das Problem, und da müssen wir noch Erfahrungen sammeln.

DIEFURCHE: Welche Verbesserungen des Gesetzes wünschen Sie sich? schönwiese: Eines der großen Problem ist, daß die Begleitmaßnahmen wieder an Sonderschulen gebunden sind. Damit macht man ein bißchen den Bock zum Gärtner, weil strukturell kämpfen die Sonderschulen ums Überleben. Sie dann zur Betreuungsorganisationen für die Integration zu machen, ist ein Fehler. Das Grundproblem des Gesetzes besteht aber darin, inwieweit Eltern ein echtes Wahlrecht haben. Juridisch haben sie ein Wahlrecht, in der Praxis bestenfalls ein Antragsrecht. Meistens läuft es darauf hinaus, daß sich Eltern sehr bemühen müssen, dieses Recht durchzusetzen. Man muß auch bedenken, daß 60 Prozent der Sonderschüler lernbehinderte Kinder sind., Das Problem bei diesen Kindern ist oft, daß beide Eltern berufstätig sind, schlechte Wohnverhältnisse haben und wenig verdienen. Diese Eltern haben natürlich die geringste Chance, sich durchzusetzen. Sie haben weder die Zeit, zu den Behörden zu gehen, noch die Strategie, ihr Recht einzufordern und zu klagen. Diese Kinder würden aber eine Sonderschule am wenigsten benötigen. Die meisten Staaten in Europa kennen die Kategorie Lernbehinderung nicht einmal.

DIEFURCHE: Wie gut oder schlecht steht Österreich im internationalen Vergleich da? schönwiese: Österreich liegt im Mittelfeld. Es war lange Zeit sehr weit hinten, wie der deutschsprachige Raum generell. Am weitesten waren immer die skandinavischen Länder. Aber auch Italien und Spanien haben nachgezogen. In Italien gibt es seit 1977 keine Sonderschulen mehr. Länder wie Frankreich und England, wo eigentlich wenig über Integration geredet wird, haben einen sehr viel geringeren Anteil an Sonderschülern, weil es dort die Kategorie Lernbehinderung nicht gibt. Natürlich haben auch die USA und Kanada das alles schon lange. Am anderen Ende der Skala steht die Schweiz mit fünf Prozent aller Kinder in Sonderschulen. Deutschland folgt mit vier, Österreich hat zwei Prozent.

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