6685421-1962_14_06.jpg

Von veränderten Familienbildern und neuen Herausforderungen für den Staat

19451960198020002020

Die Lebensumstände von jungen Menschen haben sich verändert. Neue Technik hemmt die geistig-seelische Entwicklung eines Menschen. Ein neuntes Schuljahr wäre daher ratsam und allgemein muss die Schule als Erziehungsfaktor in erhöhtem Ausmaß in den Blickpunkt genommen werden.

19451960198020002020

Die Lebensumstände von jungen Menschen haben sich verändert. Neue Technik hemmt die geistig-seelische Entwicklung eines Menschen. Ein neuntes Schuljahr wäre daher ratsam und allgemein muss die Schule als Erziehungsfaktor in erhöhtem Ausmaß in den Blickpunkt genommen werden.

Werbung
Werbung
Werbung

Viele unserer Zeitgenossen klagen über die Schlechtigkeit der heutigen Jugend und sehen die Ursachen darin, daß man dieser Jugend zuviel nachsieht und daß man sie nicht streng genug behandelt. Ein solches Urteil ist vorschnell und oberflächlich. Die Jugend von heute ist in Wahrheit nicht schlechter und nicht besser als die Jugend früherer Generationen, wohl aber ist sie in ihrem sozialen und sittlichen Bestand gerade durch die Welt der Erwachsenen ungemein größeren Gefahren ausgesetzt als früher.

Die Fortschritte der Technik und der Wissenschaften, das gedruckte Wort, der Film, Rundfunk und Fernsehen können, weise gebraucht, als Erziehungsfaktor der Jugend zum Segen sein, sie werden aber mit der modernen Vergnügungsindustrie durch ihren Mißbrauch in der Welt der Erwachsenen zu den größten Gefahrenquellen. Immerhin besteht bei Kino-und Gaststättenbesuch unter anderem noch wenigstens theoretisch die Möglichkeit einer öffentlichen Kontrolle. Dagegen entziehen sich Rundfunk und Fernsehen von vornherein jeder öffentlichen Kontrolle, und sie müssen es ausschließlich dem Verantwortungsbewußtsein der Eltern überlassen, inwieweit sie ihre Kinder von schädlichen Sendungen fernzuhalten suchen.

In anderer Hinsicht wirkt aber auch die allgemeine Einstellung der Erwachsenen zu den technischen Fortschritten der Zeit demoralisierend auf die Jugend ein. Das künstliche Streben nach ständiger Erhöhung des Lebensstandards gibt ein schlechtes Beispiel. Daß hier ein ursächlicher Zusammenhang mit der Verwahrlosung der Jugend besteht, erweist unter anderem die Feststellung des bekannten Heilpädagogen und derzeitigen Ordinarius der Innsbrucker Universitätsklinik, Prof. Dr. Asperger, der darauf hinweist, daß die Not in der Verwahrlosung der Jugend heute eine verhältnismäßig geringe Rolle spielt, daß aber die sogenannte Wohlstandsverwahrlosung alle Bevölkerungsschichten ergriffen hat.

Reizüberflutung

Ein der gesunden organischen Entwicklung des jungen Menschen abträgliches Moment liegt ferner in der Reizüberflutung, welcher der Mensch durch die moderne Technik ausgesetzt ist. Durch sie wird die rein körperliche Entwicklung des Menschen beschleunigt, die geistig-seelische aber gehemmt. Infolge dieser „Akzelerationserscheinungen“ gleicht der heute Vierzehnjährige wohl körperlich dem Sechzehn- oder Siebzehnjährigen früherer Generationen, in seiner geistigen und sittlichen Reife hat er aber erst die Stufe des Zwölfjährigen von früher erreicht, gleichwohl wird er aber unter Umständen für reif genug angesehen, unmittelbar in das Erwerbsleben einzutreten.

Gewiß erfuhr die darin liegende Härte durch den Ausbau des Berufsschulwesens für einen beschränkten Kreis von Schulabgängern aus der Pflichtschule eine Milderung. Allgemein Rechnung getragen würde aber diesem Moment erst durch eine Erweiterung der allgemeinen Schulpflicht, durch das sogenannte 9. Schuljahr, das auch aus anderen Gründen von Lehrern und Erziehern gefordert wird und in den verheißenen Schulgesetzen seine Verwirklichung finden soll. Da aber die angeführten Akzelerationserscheinungen nicht erst im Hauptschulalter, sondern bereits beim Volksschulkind eintreten, wäre der von der katholischen Lehrerschaft geforderten Wiedereinführung des 5. Volksschuljahres vor der Aufstockung einer 5. Hauptschulstufe der Vorzug zu geben.

Die abbröckelnde Familie

Hand in Hand mit diesen allgemeinen Zeiterscheinungen geht auch der Wandel, den die Familie als primärer Erziehungsfaktor unter ihrem Einfluß genommen hat. Die frühere Großfamilie, die zudem oft noch drei Generationen umfaßte und sich dann noch der Großeltern oder eines Großelternteiles als helfenden Erziehungsfaktors bedienen konnte, ist zur Kleinfamilie mit einem bis zwei, bestenfalls drei oder vier Kindern geworden. Auch die Geschwister sind als Miterzieher weggefallen.

Die Eltern sind zum großen Teil selbst dem materiellen Zeitgeist verfallen, sie sind teilweise tatsächlich gezwungen, teilweise glauben sie sich gezwungen, die Familiengemeinschaft mit ihren Kindern dem Erwerb opfern zu müssen, um an der allgemeinen Hebung des Lebensstandards teilhaben zu können. Die sogenannten Schlüsselkinder sind zu einem Zeitproblem geworden. Darüber hinaus aber ist vielfach die Ehe in ihrem dauerhaften Bestand untergraben worden. Ehen werden vorschnell und leichtfertig geschlossen und ebenso wieder gelöst.

Wie nachteilig sich dies auf die Kinder auswirkt, mag daraus hervorgehen, daß nach einer von einem Jugendrichter in einem Vortrag in der Mödlinger Arbeitsgemeinschaft für Bewährungshilfe mitgeteilten Statistik des Wiener Jugendgerichtshofes vom Jahre 1951 sich unter den kriminell gewordenen Jugendlichen mehr als 90 Prozent befanden, die aus unvollständigen oder zerrütteten Familien stammten.

Es liegt nahe, daß unter diesen Verhältnissen die Schule als Erziehungsfaktor in erhöhtem Ausmaß in den Blickpunkt gerückt wird. Tatsächlich hat auch die Schule schon viele erzieherische Einzelaufgaben übernommen, ja sie wird damit schon überfordert, wie aus der großen Zahl außerschulischer Veranstaltungen hervorgeht, die nicht dem Unterricht, sondern ausschließlich der Erziehung dienen. Es ist daher verständlich, wenn von verschiedenen Kreisen die Forderung nach einer Tagesschule nach englischem Muster erhoben wurde. Dennoch sehen wir in diesem Rezept kein Heilmittel, sondern eher eine Gefahr, da sie einfach den Eltern eine ihnen durch das Naturrecht auferlegte Verantwortung abnimmt und, indem sie nur allzuleicht in das Kollektiv führt, den Grundsätzen der Freiheit widerspricht.

Heilung und Vorbeugung

Damit gelangen wir aber gleichzeitig aus der Aufzählung der für die Diagnose der Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität wesentlichen Symptome zur Problematik der Therapie und der Prophylaxe. Halten wir an dem Grundsatz des sogenannten Subsidiaritätsprinzips fest und lehnen wir folgerichtig den Primat des Kollektivs in der Erziehung ab, dann sind Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität wohl soziale Krankheitserscheinungen, die einer Heilung und Abwehr durch die Gemeinschaft bedürfen, jedoch unter Aufrechterhaltung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums und der Familie als des primären Erziehungsfaktors.

Auch auf diesem Gebiet hat der österreichische Gesetzgeber Einrichtungen geschaffen, die dem Gedanken eines Erziehungskorrektivs nutzbar gemacht werden können und sollen, und zwar einerseits im Jugendwohlfahrtsgesetz vom Jahre 1954 in der Erziehungsberatung, Erziehungshilfe, Erziehungsaufsicht und Fürsorgeerziehung (gewisse Ansätze für die Anwendung dieser Einrichtungen finden wir übrigens schon in den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Vormundschafts- und Pflegschaftsgerichtsbarkeit), anderseits in der durch das Jugendgerichtsgesetz 1961 geschaffenen Bewährungshilfe für bedingt verurteilte oder bedingt entlassene kriminell gewordene Jugendliche.

Die Problematik liegt aber weniger an dem Vorhandensein der Einrichtungen als vielmehr darin, daß von ihnen entweder überhaupt nicht oder verspätet Gebrauch gemacht wird. Die Ursache hierfür liegt in dem mangelnden Verantwortungsbewußtsein der Erwachsenen gegenüber ihrem Mitmenschen. Eltern, die guten Willens sind, machen selbstverständlich von diesen Einrichtungen Gebrauch, Eltern, die sich selbst nicht ganz frei von eigener Schuld fühlen oder unbelehrbar sind, lehnen nicht nur jede Hilfe von außen ab, sondern wachen auch eifersüchtig über die „Heiligkeit“ der Familie, die sie selbst verletzt haben. Würde hier von unseren Zeitgenossen etwas mehr Mut gezeigt, dann müßte in vielen Fällen nicht zugewartet werden, bis der unerträglich gewordene Erziehungsnotstand von selbst in die Öffentlichkeit dringt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung