Hausunterricht - © Illustration: Wikipedia (gemeinfrei); Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger

Karl Stöger: „Homeschooling kann zu Parallelgesellschaften führen“

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Die Hoheit über Kindergärten bedeutet für die Länder Macht – und die teilen sie (in der Regel) nur gegen Geld. Verfassungsrechtler Karl Stöger über das Verhältnis von Realpolitik und Elementarpädagogik, das Recht auf Heimunterricht und wie man dem „Trend“ Einhalt gebietet.

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Die Hoheit über Kindergärten bedeutet für die Länder Macht – und die teilen sie (in der Regel) nur gegen Geld. Verfassungsrechtler Karl Stöger über das Verhältnis von Realpolitik und Elementarpädagogik, das Recht auf Heimunterricht und wie man dem „Trend“ Einhalt gebietet.

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Vom stillen Protest zur lautstarken Demo – heimische Elementarpädagoginnen und -pädagogen gehen derzeit auf die Barrikaden (vgl. Nr.39). Die Erzieher(innen) fordern ein Bundesrahmengesetz für Kindergärten und Horte . Ein Ansuchen, das zum Scheitern verurteilt scheint. Verfassungsrechtlich hat das Bildungsministerium – offiziell – keine Handhabe. Warum das so ist und wie der Minister (neben der jüngst beschlossenen Erweiterung des Beirates für Elementarpädagogik) die erste Bildungsstätte aufwerten könnte, erklärt Karl Stöger, Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht in Wien. Stöger bringt auch Licht ins Dunkel in Bezug auf den viel diskutierten Heimunterricht. Was ist hier verfassungsrechtlich zulässig, was nicht? Zudem wird im Interview ein Augenmerk auf den Verfassungsgerichtshof gelegt. In puncto Homeschooling könnte dieser eine entscheidende Wende herbeiführen.

DIE FURCHE: Das Kindergarten- und Hortpersonal fordert zentrale Rahmenbedingungen für ihre Arbeit in Österreich. Das Ministerium winkt ab, verweist auf die Verfassung. Zu Recht oder ist das eine Ausrede?
Karl Stöger: Elementarbildung ist Ländersache, verfassungsrechtlich ist das eindeutig. Dass man die Elementarpädagogik näher am Bürger und damit bei den Ländern ansiedelt, macht historisch betrachtet durchaus Sinn. Bildungspolitisch würde ich folgende Maxime formulieren: Für die Einrichtungen am Anfang der Bildungskarriere haben die Länder eine gewisse Zuständigkeit, und je weiter man fortschreitet, die Einrichtung exklusiver wird, desto eher wird es zur Bundeszuständigkeit.

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DIE FURCHE: Welche Rolle spielen dann die Volksschulen aus verfassungspolitischer Sicht?
Stöger:
In Sachen Kompetenzverteilung müssen wir hier bis zum Reichsvolksschulgesetz zurückgehen. Damals wurden die Grundzüge der Volksschule festgelegt, trotz einer großen Novelle in den 1960er-Jahren blieb diese Grundregel bestehen. Die Länder, teilweise auch die Gemeinden, erlassen ergänzende Gesetze und fungieren als Schulerhalter.

DIE FURCHE: Und das Kindergarten- und Hortwesen wird ausschließlich auf Landesebene geregelt?
Stöger: Ja. Die Verfassung sieht vor, dass dies im Landesrecht verankert ist. Erst ab der Volksschule werden vom Bund Rahmenbedingungen vorgegeben.

DIE FURCHE: Wir schreiben das Jahr 2021. Wie zeitgemäß ist diese Praxis noch?
Stöger: Die Idee dahinter ist, dass man sich überlegt, wie nahe eine Institution am Menschen zu sein hat. Je mehr die Gesamtbevölkerung inkludiert ist, desto mehr Sinn macht es, die Bildungsstätte niederschwellig, also in Bezug auf die Verwaltungsebene, zu organisieren. Damit die Leistungen vergleichbar sind, gibt es die Grundsatzvorgaben des Bundes. Und ja, das haben wir im Bereich des Kindergartens so nicht.

DIE FURCHE: Und warum nicht?
Stöger:
Das müssen Sie Bildungspolitiker bzw. -wissenschaftler fragen. Aus juristischer Sicht ist die aktuelle Vorgangsweise korrekt. Ich gehe davon aus, dass man keine Notwendigkeit gesehen hat, im Kindergartenwesen einen einheitlichen Ablauf vorzugeben, abgesehen vom verpflichtenden Kindergartenjahr.

In Sachen Kompetenzverteilung gilt es hier, bis zum Reichsvolksschulgesetz zurückzugehen. Erst ab der Volksschule werden Rahmenbedingungen vorgegeben.

Karl Stöger

DIE FURCHE: Bildungswissenschaftler(innen) betonen längst die Wichtigkeit von elementarpädagogischen Einrichtungen. Was braucht es also, damit die Politik darauf reagiert?
Stöger:
Dann muss die Verfassung geändert werden. Dafür braucht es eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Dann muss nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition mitstimmen. Hinzu kommt: Soweit Kompetenzen der Länder eingeschränkt werden, muss der Bundesrat, also die Kammer der Länder, zustimmen. Erst dann ist es möglich, auf der Ebene der einfachen Gesetze entsprechende neue Strukturen aufzubauen.

DIE FURCHE: Das klingt nach einer Herkulesaufgabe...
Stöger:
Änderungen im Schul- und Bildungswesen sind schon immer extrem schwierig gewesen. Die Causa zeigt auch große ideologische Differenzen zwischen den Parteien. Stichwort Gesamtschule. Anfang der 2000er wurde diese ja dezidiert verhindert. Auf Wunsch der ÖVP. Ein differenziertes Schulsystem ist nun explizit in die Verfassung geschrieben, eben wie die Zuständigkeit der Länder für Kindergärten und Horte. Also ja, eine Verfassungsänderung ist politisch sehr unwahrscheinlich. Auch angesichts der Realpolitik in Österreich, in der die einzelnen Bundesländer relativ mächtige Player sind.

DIE FURCHE: Provokant gefragt: Ist das Thema für die politisch Verantwortlichen zu unwichtig, um in diese Schlacht zu ziehen?
Stöger:
Jemandem etwas wegnehmen ist immer schwierig. Allerdings müsste man das gar nicht, um einheitliche Standards zu bekommen. Man hat beim verpflichtenden Kindergartenjahr gesehen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Hier hatten Bund und Länder gemeinsam bestimmte Ziele vereinbart. Da kann man sich dann mit so genannten Gliedstaatsverträgen – Verträge zwischen Bund und Ländern – einigen. Was hier meistens das Thema ist und das ist relevant: Wenn der Bund bestimmte Vorstellungen in puncto Kindergarten äußert, werden die Länder auf den Kostenfaktor hinweisen. Veränderungen in diesem Bereich sind quasi immer mit der Frage verknüpft: Wer soll das bezahlen?

DIE FURCHE: Dann verweist das Bildungsministerium auf die Verfassung, weil es die Kostenfrage scheut?
Stöger:
Dass die Zuständigkeit für Kindergärten und Horte bei den Ländern liegt, ist ein Faktum. Wenn auch nur ein einzelnes Land gegen eine Maßnahme wäre, gibt es keine Möglichkeit, diese bundesweit umzusetzen. Die Länder sind rechtlich definitiv nicht verpflichtet, mitzumachen.

DIE FURCHE: Nehmen wir eine konkrete Forderung seitens der Gewerkschaft. Etwa jene, dass in einer Kindergartengruppe nur noch 15 statt 25 Kinder betreut werden sollen. Was könnte das Bildungsministerium tun, damit dieser Vorschlag – der ja auch von Entwicklungspsychologen befürwortet wird –, umgesetzt werden kann?
Stöger:
Zunächst einmal kann Bundesminister Faßmann dies bei den Ländern anregen. Wird die Kostenfrage aufgeworfen, kann sich das Ministerium bereit erklären, entsprechende Mehrkosten mitzutragen. Wichtig ist: Der Bildungsminister kann nur aus einer gewissen Freiwilligkeit heraus agieren. Er muss das nicht tun.

Änderungen im Schul- und Bildungswesen sind immer extrem schwierig. Die Causa zeigt auch die großen ideologische Differenzen zwischen den Parteien.

DIE FURCHE: Ist es dennoch legitim, Bildungsminister Faßmann vorzuwerfen, sich für die Belange der Elementarpädagogik zu wenig stark zu machen? Er könnte den Schwarzen Peter schließlich immer noch den Ländern zuschieben, wenn sie auf seine Vorschläge nicht eingehen ...
Stöger:
Wir wissen natürlich nicht, welche Gespräche es im Hintergrund gab oder nicht. Und ob jemand Bedenken geäußert hat oder nicht. Aber, was es zu berücksichtigen gilt: Wenn es darum geht, Kindergärten zu erweitern, dann sprechen wir über enorme Summen. Vielleicht wirkt dieser Causa der demographische Wandel irgendwann entgegen. Wenn es weniger Kinder gibt, dann werden auch die Gruppen kleiner, damit Länder und Gemeinden kein Personal abbauen müssen. Aber soweit sind wir noch nicht. Aktuell gehen die Kinder altersmäßig immer früher in den Kindergarten und brauchen stundenmäßig mehr Betreuung als ihre Vorgängergeneration.

DIE FURCHE: Ein weiteres bildungspolitisches Thema bringt dieser Tage Verfassungsrechtler auf den Plan: Knapp 6000 Schülerinnen und Schüler befinden sich derzeit im Heimunterricht. In einem Ihrer wissenschaftlichen Paper beschreiben Sie die österreichische Regelung als außergewöhnlich, die allen voran im deutschsprachigen Raum ein Alleinstellungsmerkmal hätte. Warum dürfen österreichische Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten und die Deutschen nicht?
Stöger:
Deutschland ist in puncto Schulpflicht sehr strikt. In Österreich ist es dagegen gesetzlich erlaubt, ein Kind anstelle der Schule zu Hause zu unterrichten. Und zwar nicht erst seit Corona, sondern seit 1867. Damals war das Homeschooling, so wie wir es heute nennen, ein Zugeständnis an adelige Familien. Und de facto ist dieses Gesetz letztlich nie geändert worden.

DIE FURCHE: Und es ist verfassungsrechtlich korrekt, dass die Person, die unterrichtet, kein ausgebildeter Lehrer sein muss?
Stöger:
Ja, das ist richtig.

DIE FURCHE: Muss sich der Lehrende an den vom Bildungsministerium ausgegebenen Lehrplan halten?
Stöger.
Das schon. Der Unterricht soll dem an einer staatlichen Schule mindestens gleichwertig sein. Der Nachweis muss dann an einer öffentlichen Pflichtschule erbracht werden. Noch kann man sich diese aussuchen. Eine weitere Ausnahme stellen Schülerinnen und Schüler dar, die in einer Deutschförderklasse unterrichtet werden. Der Verfassungsgerichtshof hat festgelegt, dass für Personen mit mangelnden Deutschkenntnissen Homeschooling in verfassungsrechtlich zulässiger Weise ausgeschlossen werden darf.

Die Evolutionstheorie verschweigen, das geht in Österreich nicht. Dennoch: Homeschooling kann dazu führen, dass Parallelgesellschaften entstehen.

DIE FURCHE: Viele wünschen sich noch weitere Verschärfungen seitens des Verfassungsgerichtshofs in Bezug auf den Heimunterricht.
Stöger:
Verfassungsrechtler sind sich relativ einig, dass Heimunterricht zwar als Alternative zugelassen werden kann, aber diese Alternative an relativ strenge Voraussetzungen geknüpft werden darf. Das heißt: Die Frage, wie ich den häuslichen Unterricht gestalte, ist eine Frage des einfachen Gesetzesrechtes. Und das kann verschärft werden. Sei es bei der Zulassung, sei es bei der Überprüfung.

DIE FURCHE: Kann eine solche Verschärfung mit einer 50 Prozent-Mehrheit im Parlament durchgesetzt werden?
Stöger:
Ja, kann sie. Bei umfassenden Verschärfungen. Ansonsten können Verordnungen sogar nur im Bildungsministerium beschlossen werden. Eine Verfassungsänderung braucht es jedenfalls nicht.

DIE FURCHE: Widerspricht das Recht auf Heimunterricht nicht einigen anderen Rechten? Zum Beispiel Kinderrechten? Wie verhält es sich zum Recht auf soziale Teilhabe?
Stöger:
Ihr Einwand könnte ein Argument für den Staat sein, dass man genauer hinschaut, wer da häuslichen Unterricht beantragt. Es ist nicht zwingend so, dass jedes Kind, das häuslich unterrichtet wird, sozial isoliert ist. Es wird um das Gemeinschaftserlebnis der gemeinsamen Bildung gebracht, das ist völlig richtig. Aber wenn es in ein soziales Netzwerk von Gleichaltrigen eingebunden ist, z. B über Sportvereine, ist die Situation ganz anders. Eine genaue Überprüfung macht also durchaus Sinn. Das würde aber voraussetzen, dass die derzeitige Rechtslage verschärft wird.

DIE FURCHE: Theoretisch können die Kinderrechte also herangezogen werden, um den Rechtsrahmen für Homeschooling anzupassen. Aber wirklich gefordert hat das noch niemand?
Stöger:
Das Argument, dass Kinder von ihrer Umwelt isoliert werden können, wird immer wieder genannt. Gleichzeitig muss man aufpassen, dass hier kein Generalverdacht entsteht. Es führt nicht automatisch jede Art von Homeschooling zur sozialen Isolation. Der Staat erhebt derzeit keinen Anspruch auf ein Erziehungsmonopol.

DIE FURCHE: Der Verfassungsgerichtshof hat Schülerinnen und Schüler mit mangelhaften Deutschkenntnissen aus dem Heimunterricht zurückgeholt. Könnte der Heimunterricht auch bei weiteren Gruppen eingeschränkt werden?
Stöger:
Ja. Es braucht eine Änderung des Schulpflichtgesetzes durch einen Parlamentsbeschluss. Wichtig sind sachliche Argumente, die dem Ansuchen zu Grunde liegen.

DIE FURCHE: Könnten Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?
Stöger:
Dass es eine Nachprüfung gibt. In den USA etwa können Eltern z. B die Evolutionstheorie leugnen und ihren Kindern den herkömmlichen Biologieunterricht untersagen. Die Evolutionstheorie verschweigen, das geht in Österreich nicht. Allerdings: Trotz Nachprüfung können im Heimunterricht Schwerpunkte gesetzt werden – oder eben nicht. Das gilt es zu bedenken. Homeschooling kann dazu führen, dass Parallelgesellschaften entstehen, sich Weltanschauungen Bahn brechen.

Stöger - © Foto: Uni Wien

Karl Stöger

Karl Stöger ist Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht.

Karl Stöger ist Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht.

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