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Kein Gefühl für die Leiden der Opfer

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Mißbrauch von Kindern ist für Professor Wolfgang Berner, einen der führenden Sexualforscher, ein Phänomen mit vielen Ursachen und Facetten.

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Mißbrauch von Kindern ist für Professor Wolfgang Berner, einen der führenden Sexualforscher, ein Phänomen mit vielen Ursachen und Facetten.

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DIEFURCHE: Kindesmißbrauch ist ein Thema geworden, das die Gesellschaft stark beschäftigt (furche 34)1997). Sie waren viele Jahre Therapeutischer Leiter der Justizanstalt Mittersteig in Wien und sind jetzt Direktor der Abteilung fiir Sexualforschung des Universitäts-Krankenhauses Eppendorf in Hamburg, kennen also Theorie und Praxis der Sexualkriminalität Weiß die Forschung heute bereits alles über Kinderschänder?

Professor Wolfgang Berner: Nein. Das Zusammenspiel von Aggression und Sexualität beispielsweise ist keineswegs in allen seinen Vertiefungen erforscht. Da wissen wir höchstens Teile davon. Wir wissen auch nicht, bei welchen Menschen traumatische Erlebnisse in der Kindheit dazu führen, daß sie andere zu Opfern machen, so wie sie vielleicht selbst einmal Opfer waren.

Es gibt auch solche, bei denen genau das Umgekehrte eintritt, daß sie nämlich immer wieder in eine Opferrolle hineingeraten. Diese Menschen haben nämlich die unbewußte Phantasie, daß sie irgendwann einmal ihre Erlebnisse bewältigen können, indem sie immer wieder selbst zu Opfern werden.

Das alles sind ganz wichtige Dinge, die aber noch des genauen Hinschauens bedürfen.

DIEFURCHE: Wodurch entsteht dieser Auswuchs an sexuellen Befriedigungs-wünschen?

Berner: Es gibt eine Anzahl von Faktoren, die zu diesem Verhalten beigetragen haben, und die dann in ganz unterschiedlichen Kombinationen auftreten:

Die Täter sind, wie eingangs erwähnt, beispielsweise entweder als Kind selbst mißbraucht worden; Oder sie zeigen eine besondere Unsicherheit beziehungsweise aggressive Einstellung Frauen gegenüber. Es können auch eine Erziehung zu einem übersteigerten Männlichkeitsgefühl oder ein besonderes Dominanzbedürfnis vorliegen.

Die Neigung zu Alkohol und Drogen sind weitere Faktoren, die zu einer Vergröberung der Wahrnehmung führen. Junge Männer, die im Konkurrenzkampf mit anderen Männern deutlich unterliegen, suchen sich mitunter später auch ein entsprechend kleineres und schwächeres Sexualobjekt. Weiters kommt die Verführung durch die Pornographie dazu mit einer bestimmten Einstellung zur Sexualität, die damit transportiert wird: der Mensch ist eine beliebig verfügbare Ware. Kinder sind zu haben wie eine besondere Dose Kaviar.

DIEFURCHE: Ist der Eindruck richtig, daß es allmählich zu einer vermehrten Anzahl von Anzeigen kommt? Berner: Ich glaube, es ist eher der Anteil jener, die nach einer Anzeige auch verurteilt werden, höher geworden. Die Bichter sind heute mehr geneigt als früher zu verurteilen, statt im Zweifelsfall doch anzunehmen, daß kein Mißbrauch stattgefunden hat (siehe furche 35/1997, Seite 2, Anm. d. Red).

DIEFURCHE: Wethe Männer zeigen die Tendenz, sich an kindlichen Körpern zu vergreifen, und sind die alle als „kranfc” anzusehen? berner: Wenn Sie daran denken, daß im Vorjahr beispielsweise rund 40.000 Deutsche nach Thailand und in andere asiatische Länder gefahren sind, um dort mit jungen Menschen und Kindern eine geschlechtliche Beziehung zu haben, dann können das keineswegs alles Pädophile gewesen sein. Im Gegenteil: hier spielt schon eine Vergröberung der Sitten eine Bolle. Ebenso die Tatsache, daß aus Marktinteressen heraus Bedürfnisse geweckt werden, die vielleicht sonst gar nicht in dem Ausmaß vorhanden wären.

Wir gehen heute davon aus, daß etwa 20 Prozent der Männer eine gewisse Tendenz dazu haben, besonders jugendliche, kindliche Körper zu bevorzugen. Das heißt aber keineswegs, daß diesen Interessen auch nachgegeben wird. Aber wenn gleichzeitig solchen Menschen ihre Interessen auch noch besonders schmackhaft gemacht und zu günstigen Preisen die entsprechenden Möglichkeiten geboten werden, dann kann man das eigentlich schlecht unter den Begriff „Krankheit” subsumieren.

Kindesmißbrauch ist also ein sehr vielschichtiges soziales Phänomen.

DIEFURCHE: Ist die Justiz überhaupt dafür gerüstet, mit Kinderschändern entsprechend umzugehen ? berner: Nein. Weder hier in Deutschland noch in Österreich.

DIEFURCHE: Haben die Täter irgendwelche Gemeinsamkeiten? Es heißt etwa oft, daß sie überhaupt kein Gefühl fiir die Leiden ihrer Opfer haben bern er: Jeder Täter ist natürlich ganz individuell zu sehen. Aber einer der sehr wichtigen gemeinsamen Faktoren ist tatsächlich das gestörte Einfühlungsvermögen. Ein kanadischer Therapeut hat dazu ein interessantes Phänomen beschrieben:

Es gibt Täter, die in der Gruppentherapie vollstes Verständnis für die Opfer ihrer Mittäter, also ihrer Mitgruppenmitglieder, haben. In diesen Fällen können sie alles sehr genau nachvollziehen, zeigen auch ein erstaunliches Mitgefühl mit deren Opfern. Nur bei ihren eigenen Opfern können sie das nicht. Eine der wichtigsten therapeutischen Vorgangsweisen ist daher auch die Arbeit am Einfühlungsvermögen der Täter geworden.

DIEFURCHE: Genügt eine Erklärung für das Verhalten, um einen Sexualtäter dann positiv zu beeinflußen? berner: Nein. Es gibt Fälle, wo wir zwar das Zusammenwirken von negativen Faktoren schon ganz gut erklären können. Trotzdem können wir den Betroffenen nicht mehr erreichen oder gar beeinflussen. Ks gibt auch eine Beihe von solchen bedauernswerten Menschen, die schon weit über 30 Jahre in irgendeiner Haftanstalt sitzen und kein Gutachter wagt es, sie zu entlassen, weil er sie nach wie vor für gefährlich hält.

DIEFURCHE: Im Augenblick gibt es die Tendenz zu mehr „law and order”, etwa auch in Form der Androhung von längeren Gefängnisstrafen Sind das wirkungsvolle Methoden, um die sexuelle Aggression und Gewalt in der Gesellschaft einzudämmen? berner: Wir sehen derzeit tatsächlich, daß furchtsam nach mehr Polizisten gerufen und auf andere Methoden vergessen wird, die auch die Aggressionen der Gesellschaft mildern könnten.

Eine dieser Möglichkeiten ist .es, daß derjenige, der ins Gefängnis kommt, trotzdem das Gefühl hat, er ist nicht vergessen. Man sieht in ihm auch den Menschen, der vielleicht gescheitert ist, aber noch eine weitere Chance verdient.

Ich glaube, daß es für die Hygiene einer Gesellschaft sehr wichtig ist, daß die Menschen in den Gefängnissen das Gefühl haben, es geht draußen halbwegs gerecht zu. Das beeinflußt die Gesamtstimmung in solchen Institutionen sehr stark.

Wird in den Gefängnissen ein solches Gefühl nicht mehr vermittelt, dann werden daraus richtige „Schlangengruben”, in denen sich der Haß gegen das Establishment ins Unendliche steigert.

Die Gesellschaft muß aus solchen Institutionen Einrichtungen machen, die zwar zum Schutz vor Kriminalität da sind - trotzdem soll noch jenen, die sich bessern wollen, eine Chance gegeben werden.

DIEFURCHE: Sind das nicht immer noch schwer verdauliche Wünsche fiir den Rest der Gesellschaft? bern er: Das muß sich alles natürlich in einem für den Durchschnittsmenschen nachvollziehbaren Rahmen abspielen.

Es darf nicht so sein, daß der Wunsch nach Rehabilitation oder simple soziale Gefühle für Täter die gesamte Vorgangsweise bestimmen. Aber das Bedürfnis der Gesellschaft nach Bache und Strafe allein auch nicht.

Es muß in diesem Spiel der Kräfte alles irgendwie seinen Platz haben.

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