"Keine Horuck-Aktion!!"

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Christiane Spiel, Bildungspsychologin und Mitglied der Zukunftskommission, über Ganztagsschulen.

Die Furche: Was spricht aus psychologischen Gründen für oder gegen eine Ganztagsschule mit der Verschränkung von Unterricht, Übungsphasen und Freizeit?

Christiane Spiel: Nicht überall, wo Ganztagsschule draufsteht, ist auch das gleiche drin. Prinzipiell kann Ganztagsschule nur dann funktionieren, wenn man ein klares pädagogisches Konzept hat. Dazu gehört ganz wesentlich die Individualisierung im Unterricht. Es geht nicht, dass man den Lehrstoff einfach auf eine längere Zeit aufteilt und dazwischen Pausen macht. Ohne ein didaktisches Konzept mit einer Differenzierung, mit dem Ausnutzen von Erholungsphasen, mit systematisch eingebauten Wiederholungsphasen und mit der Förderung von Kindern, die Lernschwierigkeiten haben - inklusive Rückmeldungen - wäre das sinnlos. Das beinhaltet natürlich auch ein entsprechendes architektonisches Konzept. Stellen Sie sich Kinder vor, die schon jetzt am Vormittag fünf Stunden in einer relativ kleinen Klasse sitzen müssen und dann acht oder neun Stunden ohne Bewegungsmöglichkeit sitzen müssten. Ganz schlimm wäre es, wenn sie in der Schule nicht gut sind und der Klassenraum bei ihnen grundsätzlich eher negative Gefühle weckt.

Die Furche: Es kann auch sein, dass die Kollegen negative Gefühle wecken, wenn etwa Schüler Außenseiter sind. Bei einer Ganztagsschule könnten sie nicht einmal am Nachmittag in ihre Familien "flüchten"...

Spiel: Ich würde mir grundsätzlich wünschen, dass dieses Thema mehr im Schulalltag behandelt wird, dass etwa soziale Kompetenz - inklusive Zivilcourage und Akzeptanz von Andersartigkeit - als Unterrichtsprinzip in den Unterricht einfließt. Es gibt schon solche Unterrichtsprinzipien. Aber es gibt keine Anleitungen, wie Lehrerinnen und Lehrer mit diesen Unterrichtsprinzipien umgehen sollen. Dass die Kinder am Nachmittag nach Hause "flüchten", ist ja keine Lösung.

Die Furche: Wann sollte eine Ganztagsschule Ihrer Ansicht nach am Morgen beginnen, um größtmögliche Aufnahmefähigkeit zu erreichen?

Spiel: Das hat nichts mit einer bestimmten Uhrzeit in der Früh zu tun. Es gibt Menschen, die Frühaufsteher sind, und solche, die Langschläfer sind. Wenn wir so weit gehen, dass wir diesem speziellen Rhythmus Rechnung tragen, hätte jeder seine Individualschule. Das wird nicht gehen. Man wird also gewisse Übereinkünfte treffen müssen, wobei es sicher nicht sinnvoll ist, allzu früh zu beginnen. Aber man könnte vor Unterrichtsbeginn eine Betreuungsaufsicht anbieten und den Zeitpunkt, zu dem die Kinder in die Schule kommen, gleitend gestalten. Dann könnten die, die putzmunter sind, sich noch für den Unterricht vorbereiten. Und die, die müde sind, können noch dösen oder gleich später kommen - je nach Möglichkeiten der Eltern. Davon abgesehen müssen wir auch realisieren, dass es immer mehr Kinder gibt, die ein klares Nachmittagsprogramm haben - etwa Musikunterricht oder Sport. Wenn wir jetzt ho ruck Ganztagsschulen einführen, würde das auch bedeuten, dass Modelle, die eigentlich sehr gut laufen, plötzlich stark beeinflusst werden.

Die Furche: Sie haben als Mitglied der Zukunftskommission ein Papier entworfen, das seit langem auf Eis liegt. Erwarten Sie sich durch den "Reformdialog" am 14. Februar endlich konkrete Umsetzungen?

Spiel: Ich hoffe schon - auch wenn die Ergebnisse der pisa-Studie ein trauriger Anlass sind. Was mich - auch in der Diskussion um Ganztagsschulen - betrübt, ist die österreichische Unkultur, dass niemand für etwas verantwortlich sein will. Die Gemeinden sagen: "Wir zahlen nichts - die Ministerin soll zahlen!" So lange wir diese Unkultur haben - und so lange wir nach Maßnahmen schreien statt nach Zielen -, werden wir den nötigen Kraftakt in der Schulreform nicht schaffen. Wir brauchen eine Kultur der Verantwortlichkeit. Die Lehrpersonen müssen sagen: Ich bin verantwortlich dafür, dass die Kinder das können. Die Eltern müssen sagen: Ich bin verantwortlich dafür, dass meine Kinder lernen. Und die Gemeinden müssen sagen: Wir sind verantwortlich dafür, dass unsere Kinder besser werden.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

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