Keine Lust zum Träumen mehr?

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Was erwartet ein Mädchen, das heute auf die Welt kommt? Eine werdende Mutter blickt in eine Zukunft zwischen großen Plänen und bangen Erwartungen.

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Was erwartet ein Mädchen, das heute auf die Welt kommt? Eine werdende Mutter blickt in eine Zukunft zwischen großen Plänen und bangen Erwartungen.

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Es wird ein Mädchen. Die Kleine boxt schon recht kräftig, bald kommt sie auf die Welt. Mama freut sich und grübelt. Sie sieht ihr Töchterchen schon durchs Wohnzimmer krabbeln und neugierig alle Laden aufmachen, ihre Umgebung erkunden. Die ersten unsicheren Schritte, dann am Spielplatz und im Kindergarten, Schule, Universität, na, eine Frau Professor könnte sie schon werden, es gibt sowieso zu wenige Frauen an Österreichs Universitäten ...

Athene, ja, die Göttin der Weisheit soll der Ungeborenen ihren Namen leihen, nomen est omen. Oder lieber doch nicht? Spätestens in der Volksschule wird das arme Kind ausgelacht ... Mama lächelt nun auch und streichelt ihren Bauch. Für sie wird die Kleine insgeheim doch Athene bleiben.

Wissen ist out Jetzt hat sie ein ganz klares Bild vor sich: Es ist ein helles freundliches Zimmer, der kleine Max von nebenan wickelt eine Puppe, während seine Schwester Annie Feuerwehrfrau spielt. Papi übergibt Klein-Athene dem Kindergartenonkel, er wird sie am Abend wieder abholen. Es ist ihr erster Tag. Schwer zu sagen, wer aufgeregter ist, Vater oder Tochter. Aber der Kindergartenonkel wird seine Sache schon gut machen, er ist ja schließlich ein Beispiel für die konkrete Umsetzung einer von 99 Maßnahmen des Unterrichtsministeriums zur Förderung der Gleichstellung von weiblichen Wesen im Bereich von Schule und Erwachsenenbildung. Danke, Frau Gehrer. Und er ist offenbar auch ein Verfechter der Initiative "Mädchen und Burschen in untypische Berufe", stellt Papi nach einem Seitenblick auf Max und Annie fachkundig und befriedigt fest.

Szenenwechsel. Das 21. Jahrhundert ist noch ein bißchen weiter fortgeschritten, Klein-Athene nicht mehr ganz so klein und schon alleine unterwegs in die Schule. Der Unterricht hat nur mehr entfernte Ähnlichkeit mit dem, den Mama einst genossen hat.

Keine Spur von Wurzelziehen oder Urmundtierchen, Athene erzählt andauernd von kommunikativer Kompetenz, globalem Denken und komplexen Problemlösungen. Sozialwissenschaften werden rezipiert, und emotionale Erziehung ist ebenso wichtig geworden wie das Konsumieren von Fakten. Und diese Erkenntnis scheinen Schüler besonders zu mögen. Es ist unmöglich, alles zu wissen, man muß "nur" wissen, wo man nachschlagen kann, beziehungsweise was man wie im Internet findet. Man redet auch nicht mehr von "Wissen", sondern von "Kompetenz".

Die Schule hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinder umfassend auf das Berufsleben vorzubereiten, Arbeitsplatzanalysen und Arbeitsmarktanalysen haben den Lehrplan mitdefiniert, "the world comes into the classroom" prophezeit der UNESCO-Report 1996. An die Stelle von Gehorsam und Auswendiglernen treten Kritikfähigkeit, Kreativität und Flexibilität, der weibliche Kampf um Gleichberechtigung ist nur mehr ein Thema des Geschichtsunterrichts ... Jetzt muß Mama aber wirklich lachen, reale, selbstverständliche Chancengleichheit hat auch wirklich noch niemand prognostiziert.

Aber schon drängt sich ihr die nächste Vision auf. Athene studiert Maschinenbau? Wirtschaft? Informatik? Nein, Mama entscheidet sich für Architektur. Da lassen sich Kreativität und technisches Knowhow so schön verbinden. Und von Athenes Doktormutter ist Mama ganz begeistert, Athene übrigens auch. Diese Frau Professor hat bereits angekündigt, die Habilitation ihres Schützlings zu unterstützen ...

99 Luftballons ...

Jetzt regt sich's aber gewaltig im Bauch, Klein-Athene scheint zu kichern. Mama, sei bitte nicht kindisch! Das ist keine Utopie mehr, das ist ja schon Kitsch! Das Ministerium hat aber einiges vor im Aktionsplan 2000, den neuen Programmen zur Mädchenförderung in den Schulen. Besagte 99 Maßnahmen sollen durchgesetzt werden, die Gleichstellung von Mädchen und Burschen durch die Bildungsplanung und Schulentwicklung der Zukunft gewährleistet sein. Besonders dem Nachholbedarf von Mädchen in Technik und Naturwissenschaften will man Rechnung tragen.

Und ausgiebig soll geforscht werden. Über die Situation der Mädchen in den Berufsschulen, über Bildungsmotivation und Berufsaussichten, Ursachen und Auswirkungen des Lehrer/innenberufs und ähnliches, Ergebnisse abrufbar via Internet. Die Forschungsergebnisse will man übrigens sogar im Unterricht (!) berücksichtigen. Auch Elternarbeit soll forciert werden, in Zusammenarbeit mit Familienministerium und Familienberatungsstellen. Eines der Ziele ist die Sensibilisierung für Rollenklischees bei der Erziehung von Töchtern und Söhnen. Mama ist stolz, daß sie bereits in modernen Kategorien denkt und überblickt zufrieden den Matchbox-Wagenpark und die geschlechtsneutralen Teddybären, die sie ihrer Tochter als Einstandsgeschenk auf dieser Welt vermeint hat. Und wenn nun Athene lieber Puppen spielt? Na, das werden wir ihr schon austreiben! Au! Tritt nicht so fest! Ach so, du willst dein Spiel selbst bestimmen, ein Baukasten für die zukünftige Architektin ist in Ordnung. Was, du willst lieber Maurerin werden? Auch gut. Da wird es dich freuen, daß eine Sicherstellung einer wirklich freien Wahlentscheidung im Bereich des Textilen und Technischen Werkens auf der Grundlage von objektiven Informationen geplant ist. Und Modellprojekte sollen auch gefördert werden. Man will Frauen in der Ausbildung für bislang "typische Männerberufe" fördern.

In Höheren technischen Lehranstalten werden Mädchen in Zukunft angeblich besonders willkommen sein, außerdem wird (hoffentlich!) die Berufsorientierung in der Pflichtschule, in den 3. und 4. Klassen der Hauptschule und AHS verbessert. Mädchen und Frauen sollen im Zugang zu den neuen Informationstechnologien und Medien gefördert werden. Und neben der Medienerziehung wird es Verkehrserziehung, Umwelterziehung, Wirtschafts- und Konsumentenerziehung, Europaerziehung, musische und ganzheitlich-kreative Erziehung geben. Das wird vielleicht eine wohlerzogene Generation! Gesundheits- und Sozialerziehung nicht zu vergessen. Und auch noch Friedenserziehung, Menschenrechtserziehung und politische Bildung.

Das klingt ja alles recht nett. Und soll bis zum Jahr 2000 durchgesetzt werden. Das ist schon sehr bald. Ob man Schulen so schnell umkrempeln kann, ist fraglich und wo will man eigentlich die Lehrer hernehmen, die über die nötigen Kompetenzen verfügen? Außerdem: was soll aus den bereits jetzt überfüllten Lehrplänen gestrichen werden? Das steht leider nicht im Aktionsplan 2000. Und so steht zu befürchten, daß er wieder einmal nicht viel mehr bedeutet als schöne Worte, zugegebenermaßen teilweise sogar sehr schöne.

Die werdende Mutter seufzt erschöpft. Die Visionen beginnen allmählich grau zu werden und zu verblassen. Zuallererst die Vorstellung, daß der ständig mit seiner beruflichen Karriere beschäftigte Ehemann die kleine Athene dem Kindergartenonkel übergibt. Nicht wegen des Kindergartenonkels, die gibt es ja jetzt schon vereinzelt, genauso wie es Universitätsprofessorinnen gibt und Eltern, die ihre Rollenklischees über den Haufen geworfen haben. Nicht viele, aber vielleicht immer mehr? Die Pläne des Unterrichtsministeriums sind ja sehr konkret, langfristig wird sich wohl auch einiges durchsetzen lassen, aber es gibt noch viel zu tun auf dem Sektor Frauen und Bildung: Es existieren zwar bereits etliche Frauen, die aufgrund ihrer Bildung Karriere gemacht haben, in Spitzenpositionen gelangt sind, aber gemessen an der Gesamtbevölkerung selbst westlicher Länder sind es nicht allzuviele, gemessen an der Weltbevölkerung sind es verschwindend wenige. Zwei Drittel der Analphabeten der Welt sind weiblich (565 Millionen Menschen), weltweit sind weniger Mädchen als Buben in Schulen.

Die Wahrheit liegt eben manchmal leider in der Statistik.

Null Chancen ... oder - hier verzieht sich das Gesicht der werdenden Mutter etwas schmerzlich - es könnte ja alles auch ganz anders kommen. Eine deprimierte arbeitslose Frau schiebt sich vor ihr geistiges Auge. Es ist Athene, die dem ehemals kleinen, jetzt vor allem dicken Max von nebenan bewundernde Blicke zuwirft, während er ihr "historische Vorträge" hält. Um die Jahrtausendwende habe es noch so viele Arbeitsplätze gegeben, daß sogar etliche Frauen daran teilhaben konnten. "Damals hättest du vielleicht auch etwas aus deinem Leben machen können", er grinst ihr gönnerhaft zu, "es gab eine breite Mittelschicht, nicht so extreme Unterschiede zwischen arm und reich wie heute, die Leute hatten große Pläne und Hoffnungen, auch und vielleicht sogar vor allem die Frauen. Aber sie hatten gleichzeitig Angst vor der Zukunft".

Athene wirkt bereits ein wenig unaufmerksam. Sie hat die Kraft verloren, sich länger als ein paar Minuten auf etwas zu konzentrieren, es ist ja sowieso alles egal, sinnlos. Auf ihrem Gesicht hat der Alkoholmißbrauch bereits die ersten Spuren hinterlassen.

Am Tisch zwischen den beiden liegt eine Zeitung. Am Titelblatt prangt in fetten Lettern die Schlagzeile "Jugend hat keine Perspektiven mehr ..."

Nein! Soweit darf es nicht kommen - soweit wird es auch nicht kommen, schwört Mama in spe dem Schützling in ihrem Bauch. Aber die Lust aufs Träumen ist ihr vergangen.

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