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Kinder, die von einer „Insel“ zur nächsten hüpfen

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Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz zeigen soziologische Untersuchungen, daß die traditionelle Eltern-Familie nicht von neuen Formen verdrängt wurde. Tiefgreifend verändert aber hat sich in den letzten Jahrzehnten die Struktur der Familie und damit die Lebenswelt des Kindes. So die Soziologin Rosemarie Nave-Herz jüngst bei der Tagung „Familie heute“, zu der die Katholische Akademie in Bayern und der Katholische Akademikerverband Österreichs nach Salzburg eingeladen hatten.

Seit der Nachkriegszeit ist „immer weniger Kindern immer mehr Aufmerksamkeit seitens der Eltern zuteil geworden“. Das beginnt schon in der Schwangerschaft, an der heutige Väter weitgehend aktiv teilnehmen, um dann die Geburt ihrer Kinder mitzuerleben. Kleinkinder werden fast den ganzen Tag von den Eltern - vor allem von der Mutter — betreut. Dank der gestiegenen Lebenserwartung haben Kinder heute eher die Chance, ihre Großeltern und Urgroßeltern zu erleben. Durch diese völlig neue Entwicklung nehmen die Kinder innerhalb des Familienverbandes eine Minderheitsposition ein. Das Einzelkind ist oft nicht nur in der Familie, sondern auch in seiner nächsten Umgebung allein, weil die nachbarschaftliche Spielgruppe fehlt. Ganze Innenstadtbezirke sind „kinderleer“ geworden: In München leben nur mehr in sechs Prozent aller Haushalte ein oder zwei Kinder.

Um die geschwisterlichen oder nachbarschaftlichen Spielgruppen zu ersetzen, werden Spielgruppen organisiert: Sehr bald werden Kinder in Krabbel- und Kinderkreise gebracht, mit zunehmendem Alter folgen zweckgerichtete Gruppen: Musik-, Turn-, Mal-, Mutter-Kind-Gymna- stik-, und sonstige Kurse, in denen die Kinder sich sehr früh kompetent und autonom verhalten müssen.

Als Pädagogisierung und Institutionalisierung von Kindheit bezeichnet die Wissenschaft diese Phänomene. Die Mütter werden zu Organisatorinnen und Transporteurinnen ihrer Kinder, sie bringen sie von einer „Insel“ zur anderen. „Verinselung der Kindheit“ - hinter diesem Stichwort verbirgt sich die Tatsache, daß Kinder sehr früh mit unterschiedlichen Personengruppen zu tun haben, die keineswegs immer untereinander in Kontakt stehen. „Die traditionelle ganzheitliche Erfahrung der Kinder wird ersetzt durch die Erfahrung in Inseln verschiedener Aktivitäten und Personen“, wie Nave-Herz ausführte.

SPIELEN: NUR MEHR ZU HAUSE

Die Soziologin wies auch auf die „Verhäuslichung des Kinderspiels“ hin: Das gestiegene Verkehrsaufkommen und der ökonomisch orientierte Städtebau haben die Möglichkeiten der Kinder, auf der Straße zu spielen, stark eingeschränkt. Der Äufenthalt in der Wohnung wurde hingegen attraktiver, weil bereits 80 Prozent ein eigenes Kinderzimmer haben, in das die Unterhaltungselektronik Einzug gehalten hat. „An die Stelle der Kinderstraßenöffentlichkeit mit ihrem spontanen Spiel ist also eine spezialisierte Freizeitkultur getreten“, resümierte Nave-Herz.

Die stärkste Veränderung der Fa milienstruktur und der Kindheit geht wahrscheinlich vom weitgehenden Fehlen von Geschwistern aus. Zwar sollen frühere Zeiten in dieser Hinsicht keineswegs idealisiert werden, aber das Fehlen einer „Zwangsgemeinschaft“ gemischten Alters kann in ihren Möglichkeiten durch familienergänzende Betreuungsein- richtungen nicht ohne weiteres ersetzt werden. Das Einzelkind, das stets auf seine Eltern (oder einen Elternteil!) verwiesen ist, hat es durch die intensive emotionale Beziehung schwerer, sich von seinen Eltern abzulösen. Die Geschwistergruppe kann ein Gegengewicht zu den Eltern bilden - bei zu großer Nähe wie bei zu großer Distanz.

Was sich nicht verändert hat, sind die Themen der Konfliktgespräche zwischen Eltern und Kindern: Kleidung, Hilfe im Haushalt, Unordentlichkeit... Geändert hat sich ihr Stil: Anstatt auf Ge- und Verbote setzt eine „kindorientierte Pädagogik“ mehr auf Erklärungen und Diskussionen.

Zu den positiven Resultaten dieser Entwicklung gehört für Nave-Herz, daß ein Generationskonflikt oder der typische Vater-Sohn-Konflikt in empirischen Erhebungen nicht mehr auftaucht; stattdessen zeigt sich, „daß eine gleichbleibende positive und enge Beziehung zwischen den Jugendlichen und ihren Vätern und ihren Müttern gilt“.

Eine Gefahr könnte in der „over- protection“, dem Über-Behütetsein, lauern, das amerikanische Untersuchungen belegen. Vor allem aber sind die Anforderungen an die Eltern stark gestiegen — und die Ängste, in dieser Rolle zu versagen, auch.

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