"Kinder unterrichten, und nicht Fächer“

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Erstmals dürfen Jugendliche mit geistiger Behinderung die AHS-Oberstufe besuchen. Der Schulversuch startet kommende Woche in einer einzigen Schule in Salzburg.

Laura wird gemeinsam mit den anderen Englisch sprechen, geometrische Figuren zeichnen, sich mit dem Aufbau der Zelle beschäftigen, über verschiedene Wirtschaftssysteme nachdenken, Referate halten, schauspielern, kochen. Sie wird ab kommender Woche die sechste Klasse der AHS-Oberstufe besuchen. Eigentlich wäre ihr Bildungsweg nach der Hauptschule und einem letzten Jahr in der Orientierungsstufe zu Ende gewesen. Denn mehr als neun Schuljahre sieht das österreichische Schulsystem für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) nicht vor. Ab Herbst dürfen Jugendliche mit geistiger Behinderung eine Integrationsklasse der Oberstufe besuchen, allerdings nur im Rahmen eines Schulversuchs.

Das Montessori-Oberstufenrealgymnasium im salzburgerischen Gröding ist Österreichs erste Schule, die am Schulversuch teilnimmt. Dafür hat sich Lauras Vater, der Salzburger Rechtsanwalt Philipp Lettowsky, gemeinsam mit dem Diakonieverein und der Schulleitung jahrelang beim Landesschulrat und auf ministerieller Ebene eingesetzt. "Eigentlich hätte Laura in eine Sonderschule kommen sollen. Dagegen haben wir uns erfolgreich gewehrt. In Österreich geht es nur mit Eigeninitiative“, sagt Lauras Vater. Das Ziel für Lauras Schullaufbahn ist ein möglichst hoher Bildungsgrad. "Ein Äquivalent zur Matura für Schüler mit Behinderung wäre anstrebenswert“, meint Lettowsky. Derzeit möchte Laura gerne Köchin werden oder einen sozialen Beruf ergreifen.

Mehr als reine "Wohlfühl-Pädagogik“

Durch das Großwerden mit der Montessori-Pädagogik seit dem Kindergarten hat die 17-Jährige gelernt, eigene Vorstellungen zu entwickeln und zu artikulieren sowie Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Laura wird nicht anhand von Noten, sondern verbal beurteilt, zudem bewertet sie selbst ihre eigenen Leistungen. Dass Laura vom Unterricht in der Integrationsklasse profitiert, ist für Ewald Feyerer, Leiter des Instituts für Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, klar: "Zwar ist das soziale und emotionale Wohlbefinden in Sonderschulen größer, dafür ist danach die Umstellung auf die soziale Realität umso härter.“ Diverse Studien belegen, dass Kinder mit Behinderungen in Integrationsklassen nicht nur bessere Schulergebnisse erzielen, sondern auch später besser ins Berufsleben und in die Gesellschaft integriert sind. Zudem sei der Besuch einer Sonderschule hierzulande noch immer ein Stigma und erschwere den Zugang zum Arbeitsmarkt, berichtet Feyerer.

Die Grenze zur Behinderung ist fließend

Nur weil Menschen beeinträchtigt sind, müsse nicht die gesamte Ausbildung ausschließlich auf praktische Orientierung hinauslaufen: "Autisten etwa sind in gewissen Bereichen sogar überdurchschnittlich begabt“, erklärt Integrationspädagoge Feyerer. Lauras Mitschüler Patrick wird ab Herbst gemeinsam mit ihr und zwei weiteren Jugendlichen mit geistigen und teils auch körperlichen Behinderungen die 6. Klasse besuchen. Er ist Autist und naturwissenschaftlich überdurchschnittlich begabt. "Wir hoffen, dass Patrick die Teilmatura in einzelnen Fächern absolvieren darf“, sagt Eva Kothbauer vom Diakonieverein Salzburg. Später würde er gerne Physik oder Mathematik studieren.

Der Schulversuch am Montessori-BORG sei vor allem eine Frage des Muts und der Tatkraft, meint Kothbauer. "Es braucht natürlich auch viel pädagogische Erfahrung, um in der Oberstufe mit einem inklusiven Unterricht zu starten. Unsere Pädagogen arbeiten seit 25 Jahren mit einer Pädagogik der individuellen Förderung und inneren Differenzierung.“

Nicht immer ist eindeutig feststellbar, ob und in welchem Maß ein Kind beeinträchtigt ist. Manche Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen, Legasthenie oder Rechenschwäche werden automatisch an eine Sonderschule verwiesen, obwohl sie nur in gewissen Bereichen gezielte Förderung benötigen würden. Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund seien hier stark benachteiligt, berichtet Kothbauer: "Es hängt vor allem vom Engagement der Eltern ab, welche Schulbildung ein Kind mit oder ohne Lernschwierigkeiten erhält. Allenfalls auffällig ist, dass an Regelschulen nur 16 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben, an Sonderschulen aber 28 Prozent.“

Weil es keine objektiven Kriterien für die vielen Abstufungen von Behinderung gibt, sei auch eine adäquate Vergabe von Ressourcen je nach Lernbehinderung schwer umzusetzen: "Verschiedene Lehrer definieren die Beeinträchtigung desselben Kindes unterschiedlich“, so Sonderpädagogik-Experte Feyerer. Tatsächlich gibt es viel mehr Kinder mit Förderbedarf als nur jene, denen eine Behinderung diagnostiziert wurde, erklärt Rüdiger Teutsch, Leiter der Integrations-Abteilung im Unterrichtsministerium: "Andere EU-Länder definieren den Förderbedarf als breiteren Begriff, der etwa Leseschwächen beinhaltet. Österreich tut das nicht. Dabei zeigen hierzulande bis zu 25 Prozent der 15-Jährigen Leseschwächen.“

Auch Starke können von Schwachen lernen

Hinter der "Inklusiven Pädagogik“ steht die Idee einer "Schule für alle“, in der kein Kind wegen besonderer Schwächen ausgeschlossen wird. Aufgabe der Schulen ist es demnach, allen entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen die nötigen Kompetenzen für ein humanes, demokratisches und solidarisches Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft zu vermitteln.

Doch auch Kinder ohne Behinderung profitieren von inklusiven Unterrichtsformen, weiß Rüdiger Teutsch vom Unterrichtsministerium: "Gerade in der Pubertät stellt die Auseinandersetzung mit dem Fremden einen wichtigen Lernprozess dar. Viele Beispiele zeigen: Wer eine inklusive Schule besucht hat, ist auch später anderen Menschen gegenüber aufgeschlossener und wird eher Menschen mit Behinderungen anstellen.“ So lernen Jugendliche soziale Kompetenzen wie Empathie, Rücksicht und Geduld.

"Wir leben in einer heterogenen Gesellschaft, doch die gesamte Bildungspolitik zielt durch die Einteilung in homogene Lerngruppen auf eine gesellschaftliche Homogenisierung ab“, kritisiert Sonderpädagogik-Experte Feyerer. Von dieser "Gleichschritt-Marsch-Pädagogik“ wegzukommen, sei eine große Herausforderung: "Denn in einer heterogenen Gesellschaft ist es umso wichtiger, sich von kleinauf gegenseitig kennenzulernen“, erklärt Feyerer. Gut funktionierende Integrationsklassen erkenne man daran, dass nicht gleich offensichtlich ist, welcher der beiden Lehrkräfte der Sonderpädagoge ist. In Lauras Klasse war das bisher so und soll auch in der Oberstufe so bleiben. Denn egal ob Sonderpädagogik oder Regelschule: Unterrichtet werden letztendlich nicht Fächer, sondern Kinder.

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