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Kirche und industrielles Zeitalter

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Der erste Band der Schriftenreihe der Katholischen Sozialakademie ist dem in der Gegenwart bedeutsamsten der Anliegen der katholischen Soziallehre, die doch auch pastorale Probleme auf die Ebene der sozialen Wissenschaften hebt, gewidmet: Der Wandlung der Beziehung der Kirche zur sozialen Welt in der Darstellung der industriellen Gesellschaft. Der Verfasser ist einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler unseres Landes und Lehrer an der Universität Innsbruck. Sowohl Soziologe, Moralist wie Nationalökonom, versteht er es, das komplexe, weil auf verschiedenen Ebenen gelegene Problem in einer hervorragenden Weise dem Verständnis nahezubringen, ohne, vom geplanten wissenschaftlichen Charakter auch nur einen Abstrich vorzunehmen.

Den Ausgang nimmt die Untersuchung vom Sachverhalt. Jener Teil der Gesellschaft, der als „industrielle“ klassifiziert wird, ist Gegenstand der ersten Untersuchung. Der Realitätsverlust der katholischen Soziallehre, der so oft beklagt werden mußte, hing mit ihren Versuchen zusammen, ohne Prüfung de3 Sachverhaltes zu Postulaten zu kommen, die dann durch die Möglichkeiten nicht gedeckt waren.

Schasching vermeidet jeden pastoralen Utopismus. Er ist sich dessen bewußt, daß die Chancen der Kirche, wieder in der Arbeitswelt einen Standort zu beziehen, ihr Limit in den unabdingbaren Ansprüchen der Moral haben, die es der Kirche nicht möglich machen, da am Leben der Welt teilzunehmen, wo es nur durch eine Adaptierung der Grundsätze möglich wäre.

Anderseits, wie immer die Chancen nun beurteilt werden, ist es der Kirche nun einmal aufgegeben, sich in Raum und Zeit und damit in der Gesellschaft zu etablieren. Seine Darstellung beginnt also der Autor mit einem Befund der Gegenwartsgesellschaft. Sie bietet sich uns dar: als sachintensiv (hinter dem arbeitenden Menschen steht ein großer Block von Sachwerten), konsumintensiv, sie ist eine Gesellschaft, die „gemacht“ werden kann, sogar unter Manipulation der Naturgesetze.

In ihrer Struktur weist die Gesellschaft eine Dominanz der Sekundärgebilde auf (etwa der Betriebsgemeinschaften), denen eine geringere Erlebnisintensität eingeboren ist als den Primärgebilden (Familie). Die Gesellschaft zeigt sich gegenüber dem einzelnen Menschen autonom, sie erweist sich aber auch als eine nunmehr pluralistische, als ein Miteinander und Nebeneinander von je für sich auf Institutionalisierung hinstrebenden Gebilden, als ein Komplex von Teilgesellschaften, denen der Mensch auch nur mit Teilen seines Wesens innerlich angehören kann. Schließlich zeigt ein soziologischer Befund die industrielle Gesellschaft als in einer erstaunlichen Mobilität befindlich. Die Liquidation der gewachsenen Hierarchien ist ein Ausweis dafür. Wo es noch Hierarchien gibt, sind sie zeitgebunden. Man ist oben oder unten einfach auf Grund von Funktionen. Freilich: am Rand der Gesellschaft gibt es noch so etwas wie eine gewachsene Hierarchie.

Hinsichtlich des geistigen Unterbaues ist unverkennbar, daß die industrielle Gesellschaft weithin dem Liberalismus und dem Sozialismus (marxistischer Prägung) entstammt, die sich beide wohl in einem taktisch-verbalen Gegensatz befinden, aber unverkennbar eine gemeinsame Wurzel haben (daher auch die Annäherung von Freimaurern und orthodoxem Marxismus. — Der Ref.). Beide wollen „Konfession“ sein, wenn auch mit innerweltlichen Bezügen.

In einem Kapitel, das einer religionssoziologischen Untersuchung des Gegenstandes gewidmet ist, nimmt der Verfasser Bezug auf den sich in Tatsachen ausweisenden Standort der Kirche. Auch sie, die Kirche, wie sie sich uns darstellt, ist nicht frei vom Einfluß der Fakten. Man müßte eigentlich sagen: Gott sei Dank! Die Geschichte der Kirche ist auch eine Geschichte der Wechselwirkung von jeweiliger gesellschaftlicher Struktur und der Kirche als einer Summe von Institutionen. Die Kirche der Gegenwart hat freilich so gut wie keinen Anteil an der Gestaltung der gesellschaftlichen Räume und an ihrer Ausstattung mit Institutionen. Die weitgehende Entfremdung von Kirche und Gesellschaft hat dazu geführt, daß die Kirche (als Institution) einen Eigenstand hat. Die Kirche — das wird festgestellt — hat keine historische Lebensform. Daher sind die Bewegungsgesetze der Welt nicht die ihren.

In einer Schilderung der Konsumgesellschaft weist der Verfasser darauf hin, daß die Neigung zum Konsum aus der Eigenart des Einkommenzuflusses bestimmt wird. Ein Einkommen, das überwiegend aus der Hergabe von Dienstleistungen stammt, ist notwendig überwiegend konsumorientiert. Bei Kenntnisnahme dieses Sachverhaltes ergibt sich für die Kirche die Frage, wie der Konsum, die Konsumweise, im Interesse der Erhaltung der Gesellschaft ethisiert werden kann.

Alles, was nun die Kirche angesichts der gesellschaftlichen und einer Reparatur bedürftigen Sachverhalte zu ändern gewillt ist, muß sie unternehmen unter den Bedingungen einer neuen Machtsituation. Die Kirche der Katakomben entwickelte sich zu einer Einrichtung, deren Postulate schließlich auch auf dem Wege von Polizeiverordnungen durchgesetzt werden konnten. Nicht im Interesse der Kirche, sondern eines Staates, dem Kirche und das, was er unter „Religion“ verstand, ein Nützliches im Interesse seiner Erhaltung und Sicherung waren. Die Kirche in der Gegenwart ist wohl auch mit Autorität ausgestattet, aber mit einer machtlosen Autorität. Was sie an Ansprüchen — auch gegenüber der Gesellschaft der Gegenwart — stellt, muß sie selbst durchsetzen. Die Kirche der Gegenwart ist nicht mehr Stand. Die Bewältigung der gesellschaftlich-organisatorischen Frage, insbesondere der Probleme der Wirtschaft, ist so gut wie ausschließlich Sache des Staates geworden. Diese Tatsache drängt die Kirche in das Vorfeld, in den Raum der Gesellschaft, ab. Die Gruppen in dieser Gesellschaft sind nun Gegenstand der Seelsorge, die spezifiziert sein muß (= „kategoriale Seelsorge“). Ein in seinen Ansätzen (nur insoweit) neues Denken der Arbeiterschaft hat der Kirche ein neues Öffentlichkeitsrecht in einem ihr bisher fremd gewesenen Lebensraüm (der Arbeiter in den Fabriken) zugestanden, dies um so eher, je mehr sich der Arbeiter nun gegenüber den Fabriken wieder in einer Art „Reprivatisierung“ zu emanzipieren vermag. Die Präsenz der Kirche im

Bereich der industriellen Welt ist geboten. Im Interesse der Gesellschaft, aber auch der Kirche, will sie ihren Auftrag erfüllen. Eine solche Präsenz ist aber nur dann von einer optimalen Wirkung, wenn sich die Kirche bei den Verfahren der Seelsorge an die gesellschaftlichen Realitäten anpaßt.

Das Buch muß allen, denen an einer Sozialreform in christlichem Geist gelegen ist, zum Lesen und zürn Studium empföhle werden, um so mehr, als das Werk in einer schönen, bildhaften Sprache geschrieben' ist. Trotz der' steten Verweise auf die Fachliteratur werden die Darstellungen keineswegs von Zitaten überdeckt, sondern haben immer die Qualität von Eigenaussagen.

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