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Kirche und Studenten

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Die höhere Schule ist durch die Industrie- und Wohlstandsgesellschaft geistig stark in Bewegung geraten. Lehrer, Studenten und Schulorganisation haben es daher nicht leicht, sich in der neuen Situation zurechtzufinden und sie ohne Konfliktstoffe zu bewältigen. Die höhere Schule bietet sich uns als ein getreues Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft an. Alle Ideologien, Weltanschauungen, Philosophien und Lebensauffassungen haben hier ihr Heimatrecht und bestimmen das, geistige und pädagogische Profil der höheren Schule der Gegenwart. Die Skepsis und der Attentismus sind unter den jungen Studenten weit verbreitet, so daß die alten ideologischen und pädagogischen Methoden der Massenbeeinflussung, der Gesinnungserziehung und der sogenannten „Persönlichkeitsbildung“ nicht nur fragwürdig geworden sind, sondern auch nicht mehr den erwarteten Erfolg verbürgen.

Auch die verschiedenen Studentenorganisationen stehen mitten im Umbruch und werden gezwungen, ihren Standort in der modernen Gesellschaft und ihre Aufgaben im studentischen Milieu zu überprüfen und eine Neuorientierung zu vollziehen. Die gewandelte Welt an der höheren Schule gilt es auch von der Kirche her zu studieren und zu fragen, ob nicht der Religionsunterricht, die Schul- und Internatsseelsorge und die katholischen Studentenverbände vor neuen Aufgaben stehen und wie diese verwirklicht werden können. Die Welt der höheren Schule ist ein zu wenig beachteter Schicksalsraum der Gesellschaft und die Kirche der Gegenwart. Was sich hier ereignet oder nicht ereignet, hat heute oder morgen seine positiven und negativen Auswirkungen auf die Kirche und die Gesellschaft.

Kardinal König hat jüngst darauf hingewiesen, daß im pfarrlichen Raum die religiöse Situation zwar erkannt werde, aber die pastorale Aktion ausbleibe. Ähnlich liegt die Situation an den höheren Schulen. Man muß in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob unsere Kirche ihre Aufgaben an den höheren und mittleren Schulen, diesen so bedeutsamen Zentren und Umschlagplätzen des modernen Lebens, noch sinnvoll erfüllt. Beschäftigt man sich eingehend mit der geistigen Situation an der höheren Schule, so kommt man zur Erkenntnis, daß das tatsächliche Engagement der Kirche an den höheren Schulen weit vom ursprünglichen Sinn der Seelsorge und der Mission entfernt ist.

Es wäre allerdings falsch, wollte man für dieses pastorale Defizit und die missionarische Inaktivität der Kirche in der Welt der höheren Schule allein dem Religionslehrer anlasten. Die historische Entwicklung, das Arrangement zwischen Kirche und Staat an der höheren Schule, die Ausformung der priesterliehen Existenz zur Lehrerexistenz mögen dazu beigetragen haben und heute noch dazu beitragen, daß an der höheren Schule das pastorale Unbehagen sehr groß ist. In der Epoche des Bündnisses von Thron und Altar, im christlichen Ständestaat oder in der weltanschaulich noch geschlossenen Gesellschaft mag der Religionsunterricht mit den vorgeschriebenen und verpflichteten religiösen Übungen genügt haben; aber heute, wo sogar katholische Internate in der Oberstufe mitunter Klassen mit dia-spora-ähnlicher und weltanschaulich pluralistischer Struktur beherbergen, ist im allgemeinen die höhere und mittlere Schule ein Missionsgebiet ersten Ranges geworden.

Damit wird keineswegs der Religionsunterricht, wie er derzeit praktiziert wird, als bedeutungslos erklärt, als unwirksam oder gar überholt hingestellt. Gerade an der höheren Schule wird es von der Kirche her den Unterricht geben müssen, damit dem jungen Menschen die Tore zur Welt des Glaubens aufgestoßen werden. Aber da Kirche und Schule einander heute nicht mehr decken und die pluralistische Gesellschaft die höhere Schule erobert hat, muß die Kirche hier als „Gemeinde“ existieren und hervortreten. Heute kann ausgeschlossen ein beamteter Religionslehrer angesichts der religiösen Diasporasituation die christliche Gemeinde als Begegnungs-, Gebets-, Opfer- und Apostolatsgemeinde und als Ereignisort des Mysteriums mitten im Schulmilieu ersetzen.

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