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Können Schulnoten gerecht sein?

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Wissen Schüler, was Noten bedeuten? Wissen Lehrer, was sie (mit Noten Schülern an)tun?

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Wissen Schüler, was Noten bedeuten? Wissen Lehrer, was sie (mit Noten Schülern an)tun?

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Panikreaktionen sind auch heuer nicht auszuschließen, wenn 80.000 von rund einer Million Schülerinnen und Schülern in Osterreich an diesem Freitag ein oder mehrere „Nicht genügend” im Jahreszeugnis vorfinden werden. 47.000 von ihnen werden die Klasse wiederholen müssen. Deswegen wollen Wiens Stadtschulratspräsident Kurt Scholz und der Polizeipräsident der Bundeshauptstadt,

Peter Stiedl, gefährdeten Schülern einen „Schulschluß ohne Angst” bereiten: . Mit Wurstsemmeln bewaffnet sollen Polizisten Selbstmordkandidaten davon überzeugen, daß sich ein Leben nach dem „Fünfer” lohnt. Und die Schule, die Lehrer, die Eltern - haben sie alles getan, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen verständlich zu machen, warum sie diese negtive Beurteilung bekommen haben? Ist das eigene Kind weniger wert, wenn es zu jenen 22 Prozent von Schülern und Schülerinnen der Berufsbildenden Höheren Schulen (HTL) gehört, die ein oder mehrere „Nicht genügend” im Zeugnis stehen haben? (An Berufsbildenden Mittleren Schulen, Handelsakademien, und an Allgemeinbildenden Höheren Schulen wie Gymnasien sind es je 17 Prozent der Schüler, die ein Schuljahr negativ beenden).

Offenbar ist vielen, angen-fangen von der derzeitigen Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer über Landes- und Stadtschulratspräsidenten, Direktoren, Lehrer bis zu den Bildungssprechern der Parteien das Manko bewußt, das mit der derzeitigen Notenskala in Kauf genommen wird. Allerdings, so beobachtet man seit Jahren, rührt sich immer nur zu Schulschluß das pädagogische oder sonstige Gewissen: Dann wird ins utopische Schulfach gegriffen und ein Erneuerungskonzept ums andere herausgezogen. Was man während des Schuljahres nicht alles hätte machen können und sollen! Plötzlich sind alle so schlau. Kann man das noch ernstnehmen? Ministerin Gehrers Frohbotschaft: In der nächsten Novelle des Schulorganisati-onsgesetzes soll festgeschrieben werden, daß mit einem Fünfer automatisch in die nächste Klasse aufgestiegen werden darf. Jetzt geht das nur nach einer positiven Wiederholungsprüfung oder wenn die allmächtige Lehrerkonferenz dies ermöglicht.

Wiens Stadschulratspräsi-dent Scholz warnt aber vor übertriebenen Hoffnungen. Gehrers Vorschlag könne frühestens im Schuljahr 1997/98 verwirklicht werden. Verwundert ist Scholz darüber, daß Gehrer vorher nicht mit den Lehrern geredet habe. Scholz hält es für sinnvoll, nur einmal pro Unter- beziehungsweise Oberstufe automatisch mit einem Fünfer aufsteigen zu lassen, alles andere würde einen „Gratisfahrschein” bedeuten.

Ganz anders der Bildungssprecher der Grünen, Karl Öl-linger. Er plädiert für die Abschaffung des „Nicht genügend”, setzt sich für eine notenfreie, verbale Beurteilung der Schüler in Primär- und Sekundarstufe I ein und fordert radikal: „Weg mit der Notenpeitsche!” Öllinger verweist auf Befragungen des Passauer Pädagogen Bupert Vieriinger unter Firmen, von denen 75 Prozent Zeugnis und Benotung für nicht wesentlich für eine Anstellung hielten. Heute sollte „Kreativität und schöpferisches Herangehen” an die Gegenstände gelehrt werden; Schüler sollten gemeinsam mit den Lehrern Formen der Selbstbenotung erarbeiten, wodurch via Beflexionsmög-lichkeit auch gleichzeitig die Individualität gefördert werden könnte. Schüler seien sehr selbstkritisch, betont Öllinger in diesem Zusammenhang.

Werden sich Lehrer die Noten nehmen lassen? Als Kurt Scholz im vergangenen Schuljahr erstmals die Notenverteilung an Wiener Schulen veröffentlichte, gab es einen Sturm der Entrüstung unter Lehrern, die sich offensichtlich jeder öffentlichen Kontrolle entziehen wollten. Scholz will aber in Zukunft mehr Transparenz in die Notengebung bringen und Querschnittsanalysen durchführen lassen, mittels derer die Notengebung verschiedener Schulen verglichen wird. Die Notengebung variiere in einen Ausmaß von Schule zu Schule, so Scholz, die nicht mehr tolerierbar sei.

Der Wiener Erziehungswissenschaftler Bichard Olecho-wski faßt die Ergebnisse zahlreicher Studien aus aller Welt zusammen: Ziffernnoten seien äußerst unzuverlässig, nicht nur verschiedene Lehrer beurteilten ein- und dieselbe Schularbeit gänzlich unterschiedlich, es sei auch schon vorgekommen, daß ein- und derselbe Lehrer bei nochmaliger Beurteilung zu einer anderen Note gekommen sei. Verbale Beurteilungen seien zweckmäßiger, weil neben einer Begründung dem Schüler auch mitgeteilt werden könne, was er besser hätte machen können. Durch die meisten Schularbeiten und Prüfungen würde zudem nur ein kleiner Teil der Bildungsziele, nämlich (totes) Faktenwissen erfaßt/ Problematisch ist für Olechowski auch, daß Noten eine Selektionsfunktion zukommt. Es sei ein ungelöstes Problem des österreichischen Schulsystems, daß in Städten das Gymnasium eine heimliche Gesamtschule sei. „InderUnterstufe”,so Olechowski, „werden möglichst viele Parallelklassen eröffnet, in Wien oft bis zu sieben, in der Oberstufe aber strebt man eine schlanke Form an. Da gibt es dann plötzlich Schularbeiten, bei denen von 27 Schülern zehn ein Nicht genügend haben - also weit davon entfernt, die Schularbeit wiederholen zu müssen —, zwölf haben ein Genügend, drei bis vier ein Befriedigend und fast niemand ein Gut oder Sehr gut. Und es sind nicht immer die gleichen zehn, die ein Nicht genügend bekommen, das wechselt sich ab.” Die Lösung des Problems liegt für Olechowski daher nicht darin, daß mit einem Nicht genügend aufgestiegen werden darf.

Das Problem ist, daß viele Schüler und Eltern gar nicht wissen, wie Noten Zustandekommen. Es hegt eigentlich an den Lehrern durch Gespräche tiefes Mißtrauen abzubauen und ihre Schüler auf einen gangbaren Ausbildungsweg zu führen. Notenreform ist also eine Schulreform - und die haben wir, weiß Gott, notwendig.

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