Krankes Gesundheitssystem?

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Die Diskussion darf nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten geführt werden - Gesundheit wird nicht billiger.

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Die Diskussion darf nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten geführt werden - Gesundheit wird nicht billiger.

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Medizinerschwemme, lange Wartezeiten, vermutete Ungerechtigkeiten bei der Vergabe von Kassenarztstellen. Plakative Schlagworte geben den Stoff für Diskussionen. Nicht die Auseinandersetzungen mit möglichen Schwächen des Gesundheitssystems sind kritikwürdig, sondern die Art, wie sie erfolgen. Das Spiel mit unsachlicher Polemik und Vorurteilen ist nach wie vor eine beliebte Profilierungsschiene für das politische Mittelmaß. Es wird von den Medien begierig aufgegriffen und genüßlich als Konflikt ausgeweidet.

Man vergißt, daß die chancengerechte Vergabe von Kassenverträgen bei begrenztem Stellenangebot nichts an der Zahl der kassenärztlichen Planstellen ändert. Man ignoriert auch, daß die Diskussion etwa um die spitalsärztliche Einkommensverteilung möglicherweise ein Gebot der Gerechtigkeit ist, nicht aber zwangsläufig die medizinische Qualität positiv beeinflußt.

Trotzdem gibt die Entwicklung des österreichischen Gesundheitswesens objektiv Anlaß zu Unbehagen. Es ist Zeit, die Erörterungen aus den Tiefen populistischer Inkompetenz auf das Wesentliche zu lenken und der selbstverliebten Daueranalyse einer wachsenden Gemeinde sogenannter Experten echte Problemlösungen folgen zu lassen.

Einige Thesen: Erstens wünscht die Bevölkerung im Krankheitsfall eine möglichst rasche und gute medizinische Versorgung. Ein verstärkt ökonomisch ausgerichtetes Gesundheitssystem steht diesen Bedürfnissen, zweitens, wegen der dadurch veranlaßten qualitativen, quantitativen und finanziellen Limitierungen entgegen. In den vorhandenen Strukturen finden sich, drittens, enorme Rationalisierungsmöglichkeiten, die sich, viertens, aufgrund des gesundheitspolitischen Kompetenz- und Finanzierungs-Wirrwarrs nicht realisieren lassen. Der faule Kompromiß ist folglich als bequemster Weg das tragende Prinzip der Politik und nicht die echte Problemlösung. Der medizinische Fortschritt und die Überalterung der Bevölkerung rütteln, fünftens, am Sozialstaat und seinem Gesamtheitsanspruch.

Man wird daher an einer grundsätzlichen Erneuerung des Gesundheitssystems nicht vorbeikommen. Die tragende Überlegung kann nur darin liegen, dem mündigen Bürger einen seiner Eigenverantwortung entsprechenden Stellenwert einzuräumen. Der Patient kontrolliert - und nicht primär der Bürokrat. Nur die Kostentransparenz wird den ökonomischen Vorgaben im Gesundheitssystem gerecht. Weiters ist der Staat angehalten, seine Aufgaben neu zu definieren: Kann er es sich weiter leisten, das gesamte medizinische Spektrum zu finanzieren, oder muß er sich auf das Notwendige beschränken?

Die unübersichtlichen Gesundheitskompetenzen widersprechen den trivialsten Grundsätzen von politischem Management. Ein eigenständiges Gesundheitsministerium ist mit umfassenden Kompetenzen auszustatten, insbesondere hat es die politische Verantwortung für die Krankenkassen zu übernehmen. Es kann ja nicht sein, daß ein Gesundheitsminister am Bettelstab der Machtlosigkeit dahinvegetiert, während die Landesfürsten und Sozialversicherungskaiser hurtig fehlsteuern dürfen. Ein Beispiel: Die mangelnde Gesamtkompetenz führt zu gewaltigen volkswirtschaftlichen Fehlinvestitionen. Eine echte Spitalsentlastung ist nur durch die Aufwertung der extramuralen Medizin möglich, was auf den Widerstand der Krankenkassen stößt. Über diese grundsätzliche Systemschwäche wissen wir seit langer Zeit, und die Politiker werden auch nicht müde, allerorts diesbezügliche Verbalreflexe von sich zu geben. Doch die Taten lassen warten. Wo bleiben denn die Gruppenpraxen, in welchen mehrere Ärzte unter dem Motto "Alles unter einem Dach, und das möglichst rund um die Uhr" zusammenarbeiten? Gruppenpraxen sind übrigens eine veritable Chance für Jungärzte, die als Leidtragende einer verfehlten Bildungspolitik zunehmend adäquate Beschäftigung suchen. Eine Änderung des Medizinstudiums, das den zukünftigen Ärztebedarf berücksichtigt, ist aus Sicht des Steuerzahlers und der betroffenen Mediziner überfällig.

Unser Gesundheitswesen krankt an einer fulminanten Blockade durch ein ideologisch starres und ideell erstarrtes Sozialversicherungssystem sowie an anhaltender Kompetenzverweigerung der politischen Verantwortungsträger. Führt man die Diskussion nur von der ökonomischen Ebene aus, ist eine Entwicklung von der bereits jetzt deutlich spürbaren Limitierung der medizinischen Leistungen zu einer qualitativen Selektierung absehbar. Das hieße, die zeitgemäße und notwendige Betreuung erhielten nur noch bestimmte Gruppen, etwa solche, die im budgetären und ideologischen Kontext als sozialverträglich anzusehen wären. Dezentralisierung und vernünftige Liberalisierung können diese gesellschaftspolitisch bedenkliche Entwicklung hintanhalten. Zuletzt werden wir auch nicht um die Erkenntnis herumkommen, daß Gesundheit in Zukunft nicht weniger kosten wird - weder der Gesellschaft noch dem einzelnen.

Der Autor ist Pressesprecher der Österreichischen Ärztekammer.

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