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Krise der Rechtsautoritt

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Das . Ansehen unserer Rechtsordnung durchlebt gegenwärtig eine Krise. Dies ist nicht so sehr aus der Zahl der als Rechtsbrecher verfolgten Personen, als aus der allgemeinen Stimmung zu ersehen, die hie und da in die Öffentlichkeit dringt. Wir hören öfters den Vorwurf, daß dieses oder jenes Gesetz nicht durchgeführt wird oder beim Publikum keine Beachtung findet.

Diese Zustände haben zweifellos ihren Hauptgrund in den äußeren Umständen, unter denen unsere Staatsmaschine gegenwärtig arbeiten muß. Der heutige Mangel an der Selbständigkeit der Staatsgewalt, an der Souveränität des Staates, trägt viel zu dem Tiefstand der staatlichen Autorität bei. Ähnlich lagen die Dinge in den Februartagen des Jahres 1938, als Österreich von aller Welt verlassen war, und auch im letzten Kriege, als die deutschen Siegesmeldungen ausblieben.

Zu diesen äußeren Umständen kommen aber noch innere, die zum Teil auf rechtspsychologischem Gebiete liegen. Sie beruhen auf gewissen Fehlern der Gesetzgebung. Da diese Mängel vermeidbar sind, soll im Interesse der Stärkung der Rechtsautorität darüber gesprochen werden.

„Ius est ars boni et aequi“ sagten die römischen Juristen. „Das Recht ist die Kunst des Guten und Angemessenen.“ Ja, es ist eine Kunst, gutes und billiges Recht zu setzen und zu finden, soll doch letzten Endes dabei etwas Vollendetes und Dauerhaftes geschaffen werden. Kenntnis des Stoffes und Wortgewandtheit allein können insbesondere für den Gesetzgeber nicht ausreichend sein. Er muß sich über die Durchführbarkeit seiner Anordnungen, über die Grenzen der Ge-setzesgewalt klar sein, er muß sich ferner hüten, gegenüber der Gesetzesautorität die eigene Rechsüberzeugung des Staatsbürgers herauszufordern.

Die Grenzen der Gesetzesgewalt sind durch den Rahmen der Er-zwingbarkeit des Gesetzesbefehles gegeben. Neben den Fällen der faktischen Unmöglichkeit einer anbefohlenen Leistung — zum Beispiel Pflicht schwerer Arbeiten trotz unzureichender Ernährung — sind hier solche zu erwähnen, in denen die Vollziehung des Gesetzesbefehles lediglich von dem moralischen Wollen der Betroffenen abhängig ist. Hierher gehören die Vorschriften über Meldepflichten und Ablieferungspflichten, wenn damit Nachteile für den Pflichtigen verbunden sind. Den Reigen solcher lahmer Vorschriften hat bekanntlich die Verordnung vom Juli 1938 über die Ablieferung der östereichischen Goldmünzen eröffnet. Er wird heute in den zahlreichen Anmelde-und Registriervorschriften fortgesetzt. Das moralische Wollen wird in solchen Fällen, wie sogleich gezeigt werden soll, leicht von der Rechtsüberzeugung des Einzelnen beeinflußt. Dabei erweisen sich auch Strafandrohungen als wenig fruchtbar. An Stelle von Strafen ließe sich in besonderen Fällen eher etwas durch Prämien erreichen. Derartige Fragen bilden für den Psychologen kein Problem, es ist zu bedauern, daß der Gesetzgeber von heute an diesen achtlos vorübergeht.

Der Gegenpol der Gesetzesautorität ist die Rechtsüberzeugung des Einzelnen. Wie oft haben wir dies in den Jahren der Unterdrückung miterlebt. Was kümmerte sich ein aufgeschlossener Katholik um staatliche Gesetze, wenn ihn seine Rechtsüberzeugung auf die von der Kirche ausgesprochenen Sätze des Naturrechtes verwies. So galt es in erster Linie zu handeln, wenn es um die Frage der Kindererziehung ging. Hier konnte nie und nimmer staatliches Recht für den Familienvater bindend sein. Ablehnung war und ist stets gerechtfertigt, wenn der Staat ein leichtfertiges Spiel mit der Existenz der Familie treibt. Auch auf diesem Gebiete finden wir abschreckende Beispiele aus den letzten Jahren. Es sei hier nur an die Durchführungsvorschriften zur berüchtigten Berufsbeamtenverordnung vom Mai 1938 erinnert, die ausdrücklich verlangten, daß bei der politischen Maßregelung der Beamten nicht auf die Familienverhältnisse Bedacht zu nehmen sei. Die Familie steht unter dem besonderen Schutz des Naturrechtes. Auch der heutige Gesetzgeber sollte sich stets fragen, ob er nicht da oder dort durch seine Vorschriften die Existenz von Familien gefährdet. Zu der Kategorie derart unbedachter Anordnungen zählen insbesondere solche, in denen Eheleute vor die Alternative gestellt werden, die Ehescheidung zu veranlassen oder schwere Benachteiligungen durch das Gesetz auf sich und ihre Kinder zu nehmen.

Im Naturrecht begründet liegt ferner der Anspruch des Menschen auf Gleichheit vor dem Gesetz. Das kanonische Recht erfaßt dieses Gebot durch die Formel der „omnium una libertas“, der gleichen Freiheitsrechte für alle. Der ärgste Vorstoß gegen das Gleichheitsprinzip war seit dem Mittelalter die nationalsozialistische Judengesetzgebung. Sie sollte die Gesetzgeber für alle Zeiten davor warnen, irgendwo oder irgendwie Ähnliches zu tun. Wie kann ein Gesetzgeber von allen Staatsbürgern die gleichmäßige Befolgung seiner Gesetze verlangen, wenn er selbst ungleiches Maß anwendet? Derartigen Gesetzen mangelt das „aequum“, sie führen zu einer Relativität des offiziellen Rechtsbegriffes, die ein Merkmal des ungesunden Staates, meist der Diktatur ist.

Solches Vorgehen ruft zwangsläufig den moralischen Widerspruch der Betroffenen hervor, die eigene Rechtsüberzeugung lehnt den staatlichen Gesetzesbefehl ab. Ebenso versündigt der Gesetzgeber gegen die Autorität seiner Vorschriften, wenn er gegen Treu und Glauben verstößt oder inkonsequent wird, zum Beispiel gemachte Zusagen nicht einlöst. Bekanntlich hat unser Schaltergesetz in dieser Hinsicht großes Unbehagen hervorgerufen. Welche Verwirrung herrscht in den Vorschriften über den „Rucksackverkehr“! Moralische Gebundenheit der Staatsbürger setzt unbedingt Rechtsmoral voraus. Die anders lautenden Thesen der sogenannten Rechtspositivistcn oder Verkünder der „Reinen Rechtslehre“ — sie fordern unbedingten Gesetzesgehorsam, auch wenn dem Gesetz das „bonum et aequum“ mangelt — haben durch die Erscheinungsformen des gesatzten Rechtes in den letzten Jahren die schlimmste Abfuhr erlitten. Der heutige Gesetzgeber scheint jedoch manchmal bewußt oder unbewußt der „Reinen Rechtslehre“ zu huldigen, da er glaubt, durch formellen Akt, durch Gesetze höherer Art („Verfassungsgesetze“), auch über Sätze des Naturrechtes hinweggehen zu können.

Das Naturrecht erkennt auch das Recht der Notwehr und des Notstandes an. Der Gesetzgeber darf also nicht ohneweiteres den objektiven Tatbestand mit Sanktionen bedrohen, er muß auch auf Gründe, die ein Verschulden ausschließen, Bedacht nehmen.

Auch der Staat selbst sieht sich mitunter bemüßigt, auf die Normen des Naturrechtes zurückzugreifen. Wie könnte er sonst Handlungen der Strafe zuführen, die zur Zeit der Tat nicht durch Gesetz mit einer Strafe bedroht waren? Er kann dies nur damit begründen, daß die betreffende Handlung nach dem Naturrechte rechtswidrig war. Er darf dies aber nur in derartig rechtswidrigen Fällen tun, wie zum Beispiel bei Handlungen,die als Verstöße gegen die Menschenwürde zu werten sind.

Zusammenfassend können wir feststellen, daß es eigentlich nicht an der Autorität des Rechtes mangelt — das Recht ist ja in den geschilderten Fällen unser Naturrecht —, sondern an der Autorität der Gesetze. Gesetze sind eben Menschenwerk. Sie können bei entsprechender Sorgfalt und richtiger Durchgeistigung von Grundfehlern der erwähnten Art freigehalten werden; die Autorität der Gesetze wäre dann in mancher Hinsicht gesichert. Hiebei haben die Juristen, die bei der Ausarbeitung der Gesetze mitwirken, eine wicht'ge Aufgabe. Sie sollen ihre rechtstheoretischen Kenntnisse verwerten, sie sollen die Künstler sein, die das „bonum et aequum“ richtig gestalten.

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