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Lehrfach: „das Soziale“

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Die große Schulreform soll nicht nur zu einer Erweiterung der Pflicht-und der Mittelschuldauer führen, sondern auch Anlaß zu einer Reform des darzubietenden Lehrgutes sein.

Eine Lehrstoffreform kann doppelten Charakter haben: Einerseits können Lehrziel wie Lehrstoff von bereits vorhandenen Lehrfächern geändert und anderseits neue Gegenstände in den Gegenstandskatalog aufgenommer! werden, wie etwa jüngst die Zeitgeschichte. Die Schulreform als eine Schuldauerreform kann nur in großen Etappen und in Anpassung an sozialstrukturelle Wandlungen erfolgen, die Schulreform als Gegenstands- als Lehrgutreform ist jedoch eine kontinuierliche Anpassung der Schule an neue Wirklichkeiten und pädagogische Erkenntnisse und vollzieht sich eigentlich ohne Unterbrechung, wenn ihr auch jetzt im Rahmen einer Änderung des gesamten Gerüstes des Schulwesens ganz besondere Möglichkeiten geboten werden.

Eine Gruppe von Gegenständen wurde bisher auf Mittelschulebene — in Österreich — nur in einem unzureichenden Umfang, wenn überhaupt, unterrichtet: die Sozialwissenschaften.

Wenn nun von „Sozialwissenschaften“, gar als LInterrichtsfach, die Rede ist, bedarf es zumindest einer Definition dessen, was man als Lehrstoff dem Fach zuzurechnen hat. Versuchen wir, eine solche Definition zu gewinnen, so erfahren wir, daß es sich bei den Sozialwissenschaften um eine Stimme von ie für sich geschlossenen Gegenständen handelt, die daher wieder je für sich zu definieren sind und insgesamt erst die Gegenstandskategorie „Sozialwissenschafren“ ergeben. Gemeinsam ist allen Fächern, daß sie in einer besonderen Weise mit gesellschaftlichen Vorgängen befaßt sind. In manchen Ländern erklärt man etwa auch die Geschichte und die Geographie als Teil eines Sammel-u&mmtf ;s-.!S^fWS#f#unde“:;, nuti unter Einschluß,der Staatsbürgerkunde alle Fachgebiete':umfaßt, die irgendwie von einem sozialen Belang sind. Offenkundig und im Sinn der an den Hochschulen geübten Fächergliederung sind aber vor allem die Nationalökonomie, die Rechtswissenschaft mit bestimmten Teilen und die Soziologie Fächer, die eindeutig den Sozialwissenschaften anzurechnen sind.

Nationalökonomie und die sozial relevanten Teile des Rechtsstoffes werden an den Handelsakademien und in einem geringeren Umfang auch an den technischen Mittelschulen gelehrt. Die Soziologie hat in Österreich nur den Charakter eines Hochschulfaches.

Die Tatsache, daß man den gesamten Sachbereich der Wirtschaft, von dem inhaltlich eine Reihe anderer Gegenstände mitbestimmt sind, an der Mehrheit der Mittelschulen Österreichs überhaupt nicht unterrichtet (es sei denn in der Produktionsgeographie oder in Teilen des Geschichtsunterrichtes), wird zwar oft, aber keineswegs allseitig beklagt. Auch die Rechtsfächer rühren lediglich in der Staatsbürgerkunde ein bemerkenswertes Kümmerdasein. Wie notwendig ein Befassen auch im Unterricht mit den sozialen Fächern ist, hat schon vor 60 Jahren Kerschensteiner hinsichtlich der obengenannten Staatsbürgerkunde erkannt („Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend“, 1900), die freilich nicht allein ein Lernfach ist, sondern auch über vermittelte Erkenntnisse zum Bekenntnis der Schüler führen soll. Jedenfalls vermag bereits die Staatsbürgerkunde, die sich auf eine regional spezifische Gesellschaft und ein für deren Zusammenleben geschaffenes Normengeflecht bezieht, auf allgemeine soziale Prozesse zu verweisen.

Manche sehen in der Soziologie die gemeinsame Grundlage der Sozialwissenschaften. Trotzdem weiß man mit dem Gegenstand in der Mittelschule nichts anzufangen.

Anders der kommunistische Osten. Die in den Mittelschulen des Ostblocks vorgetragene Gesellschaftslehre ist nicht mit dem identisch, was wir als Soziologie verstehen; sie wird nicht „wertfrei“ (objektiv) vorgetragen, sondern als eine Art von Krankengeschichte der „kapitalistischen“, der

„bürgerlichen“ Gesellschaft und zugleich als eine Heilslehre im Sinne der jeweils gültigen Parteiprogrammatik. Trotz aller „parteilichen“ Befangenheft, mit der die Gesellschaftslehre an den Schulen im Osten vorgetragen wird, gewinnen jedoch die Schüler beachtliche soziologische Grundkenntnisse.

Die Frage des Unterrichts sozialwissenschaftlicher Fächer ist kein österreichisches, sondern ein internationales Problem, dem auch bereits die UNESCO Rechnung trug. Im Vorjahr berief das UNESCO-Institut für Erziehung nach Hamburg eine Expertentagung ein, an der 18 Vertreter aus 14 Ländern, darunter auch der Autor, teilnahmen. Gegenstand der Beratungen war die Frage des „Unterrichtes der Sozialwissenschaften“ auf einem „Pre-University“-Niveau. Im einzelnen sollte von den Experten geprüft werden, ob und in welcher Weise die Rechtskunde, die Lehre von den politischen Einrichtungen („Staatsbürgerkunde“) und den internationalen Beziehungen, die Nationalökonomie und die Soziologie (diese einschließlich Sozialpsychologie und Anthropologie) als Lehrfächer in jenem Bereich des Schulwesens Aufnahme finden müßten, den wir mit dem Sammelbegriff „Mittelschule“ bezeichnen.

Im Verlauf der Besprechungen wurde offenkundig, daß nicht allein Ost und West durchaus verschiedene Ansichten über Art und Umfang des Unterrichtes der „social sciences“ haben, sondern daß je Land verschiedene Ansichten über das Lehrziel bestehen.

Die zweite Frage, die in Hamburg zu untersuchen war, konzentrierte sich um das Problem, ob die Sozialwissenschaften in Form eines führenden Gegenstandes darzustellen seien oder ob man das „Soziale“ in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen auf eine Reihe von Gegenständen aufteilen und eben jeweils dort unterrichten solle, wo es ohnedies und unvermeidbar Teil des darzustellenden Sachverhaltes ist, (Geschichte, Geographie).

Als Ergebnis ihrer Beratungen empfahlen die Teilnehmer der Expertentagung

• das spezifische pädagogische Material in allen jenen Ländern zu sammeln, die bereits in irgendeiner Form

die Sozialwissenschaften zum Rang eines Lehrfaches auch an Mittelschulen erhoben haben;

• bestimmte Themen aus dem Bereich der Sozialwissenschaften in unterschiedlicher Weise, etwa in Form von Broschüren, für den Lehrgebrauch, also in pädagogischer Vereinfachung, zu bearbeiten. Auf diese Weise würden pädagogisch verwertbare, zumindest diskutierbare Lehrstoffmodelle geschaffen und eine Art Vortragsgerüst des „Gegenstandes“ entstehen;

• für jene Länder, in denen der Unterricht in den „social sciences“ erst in Entwicklung ist, wird die Abhaltung von entsprechenden Konferenzen vorgeschlagen, die sich mit der Frage, in welchem Umfang und in welcher Art und Weise die Sozialwissenschaften zu unterrichten sind, zu befassen hätten.

Die Situation in Österreich

In Österreich ist die Situation wie eingangs geschildert: An den allgemeinbildenden Mittelschulen wird den Forderungen der UNESCO-Kon-ferenz noch nicht oder fast nicht Rechnung getragen, wohl aber weitgehend an den berufsbildenden Mittelschulen. Die Gesellschaft hat eine arteigene Natur, sie ist eine Wirklichkeit, die immer lebensmächtiger wird. Soll die Kenntnis dieser Natur der Gesellschaft, der Regeln, nach denen die Menschen zusammenleben, der typischen menschlichen Verhaltensweisen, die sich in quasi-gesetzlichen Abläufen nieder-

schlagen, sollen nicht auch diese Dinge Bestandteil jenes Wissenskomplexes werden, den man, ohne ihn je brauchbar definiert zu haben, oberflächlich als „Allgemeinwissen“ abstempelt? Dabei darf nicht übersehen werden, daß unvermeidbar bestimmte soziale Prozesse bereits da und dort auch an allgemeinbildenden Mittelschulen im Unterricht geschildert werden, wenn auch noch nicht versucht werden konnte, das „Soziale“ gleichsam aus gesellschaftlichen Prozessen herauszu-destillieren und „isoliert“ vorzutragen. Soziologische Methoden sind jedenfalls unverkennbar bereits, aktiviert durch einzelne Lehrerpersönlichkeiten, da und dort beim Vortrag des Lehrstoffes in Anwendung. Vor allem in der Zeitgeschichte, deren Einführung als eigenes Fach bereits verfügt wurde, wenn auch die quasi-gesetzlichen Abläufe des gesellschaftlichen Verhaltens im Bereich der jüngsten Geschichte noch keine Prägnanz aufweisen.

Wird etwa die Staatsbürgerkunde ohne soziologische Hinweise vorgetragen, ist sie kaum mehr als Darstellung einer Gesellschaft, wie sie von einem Gesetzgeber in Form von Normen diszipliniert wurde, die Darstellung einer Gesellschaft, wie sie sein soll, aber nicht, wie sie ist, wenn nicht gar die Schilderung eines „gesellschaftslosen“ und daher irrealen Staates, eine Art kameralistischer „Polizeiwissenschaft“.

Wer soll die Sozialwissenschaften, soweit sie als autonome Gegenstände vorgetragen werden, unterrichten?

Für den Bereich der Handelsakademien und der technischen Mittelschulen ist das Problem, zumindest was Nationalökonomie und Recht anlangt, gelöst, nicht aber an jenen Schulen, die einem Kommerzialisten oder Juristen keine ausreichende Beschäftigung zu bieten hätten und an denen daher die „sozialen“ Fächer weitgehend von Ungeprüften unterrichtet werden müßten. Die Konferenz der UNESCO beschäftigte sich daher auch mit der Frage des Lehrernachwuchses für den Unterricht in den Sozialwissenschaften, ohne zu einem brauchbaren Resultat zu kommen. Nun kann man aber nicht, wie dies zuweilen praktiziert wird, zuerst Fächer einführen und sich erst in zweiter Linie um die Fachkräfte bemühen, welche die Fächer vorzutragen haben. Gerade im Bereich der Sozialwissenschaften' sind in anderen Ländern viele tätig, die keine Spezialkenntnisse aufweisen und einfach das, was sie wissen, als „Sozialwissenschaft“ erklären. Die bundesdeutschen Erfahrungen sollten uns eine Lehre sein. Wenn also überhaupt an die Einführung sozialwissenschaftlicher Gegenstände an allen Mittelschulen gedacht wird, ist es wohl besser, zur Vermeidung eines die Sozialwissenschaften diskriminierenden Sozialpalavers zuerst die in Frage kommenden Lehrer auszubilden und dann erst an die Einführung von entsprechenden Gegenständen zu denken.

Für Nationalökonomie und Recht besteht die Möglichkeit eines Lehramtsstudiums an der Hochschule für Welthandel.

Die Verdichtung unserer gesellschaftlichen Beziehungen, gefördert durch die Integration und die durch das Nachrichtenwesen geschaffene Transparenz unserer Welt, läßt jedenfalls vermuten, daß es notwendig ist, Kenntnis von einer Gesellschaft „an sich“ auch bereits an der Mittelschule zu vermitteln. Wenn sich die Gesellschaft als eine Weltgesellschaft konstituiert, reicht die in der Staatsbürgerkunde gebotene Kenntnis einer durch Normen disziplinierten Gesellschaft nicht aus, ganz abgesehen davon, daß die Aufgabe der Staatsbürgerkunde ähnlich jener des Unterrichts in der Religion ist und sich nicht auf Kenntnisdarbietung allein konzentrieren darf: Wissen und Gesinnung vermitteln.

Daher müßte nach Ansicht des Autors die Einführung eines Soziologieunterrichtes, wenn auch in einer dem Alter der Schüler angemessenen Form, ins Auge gefaßt werden, um so mehr, als auch auf ein relativ großes Interesse der Schüler gerechnet werden kann. Ein Beispiel: Bei einer schriftlichen Reifeprüfung 1962 wählten die Kandidaten von den drei angebotenen Themen im Gegenstand „Deutsch“ mit 85 Prozent das soziologische.

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