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Lesen ist cool

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Videos und Computer gehören längst zum Alltag der Kinder. Jetzt sollen sie auch für das Lesen von Zeitungen begeistert werden.

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Videos und Computer gehören längst zum Alltag der Kinder. Jetzt sollen sie auch für das Lesen von Zeitungen begeistert werden.

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Die jüngst in einem Wochenmagazin erschienene Fotomontage mit „nacktem" Bundeskanzler mag Gegnern der folgenden Überlegungen in die Hände spielen. Sie werden sich nämlich in ihrer Uberzeugung bestärkt und mehr denn je berufen fühlen, junge Menschen vor den Verführungen der Medien bewahren zu müssen.

Als zweite Vorbemerkung sei auch gleich vorweg angemerkt, daß Ausnahmen bekanntlich die Regel bestätigen und daher die folgende Argumentation für bestimmte Schulbuchklassiker in der Kategorie des „Liber latinus" nicht zutreffend sein mag. Generell gilt aber - und darin sind sich Lehrer und Schulbuchautoren sogar einig —, das in den Schulbüchern brandneu archivierte Wissen ist bereits bei dessen Erscheinen „Schnee von gestern" und bedarf der Ergänzung, Überarbeitung und Aktualisierung. Wir leben in einer Welt beschleunigter Prozesse. Was gestern noch up to date war, ist heute bereits veraltet. (Skeptikern sei empfohlen, die Behauptung anhand der Tageszeitung von gestern zu überprüfen!)

Unser Leben, unser Können, unser Erfahrungshorizont ist einer rasant fortschreitenden Veralterungsge-schwindigkeit ausgesetzt; nicht mehr täglich, sondern stündlich werden wir mit Neuem konfrontiert. Kein Schulbuch kann mit diesem Tempo Schritt halten. Immer größer klafft die Lücke zwischen Lehrstoff und Erfahrungswelt der Schüler, immer größer werden daher auch die negativen Auswirkungen auf Interesse und Lernmotivation der Schüler.

Längst haben daher erfahrene Pädagogen zur Zeitung gegriffen und diese zunehmend im Unterricht eingesetzt. Denn die Zeitung als ein im höchsten Maß der Aktualität und der Gegenwartsnähe verpflichtetes Medium erweist sich als hervorragendes Instrument, um besagte Lücke zu schließen. Als Brücke zwischen Klassenzimmer und Lebenswelt der Schüler fördert sie deren Lesebereitschaft und Lesefreude.

Gerda K. Schieder hat in ihrer Dissertation aufgezeigt, daß mehr als die Hälfte der befragten 2.500 Schülerinnen und Schüler das Lesen im Deutschunterricht „zum Einschlafen" fanden. Zu denken gibt auch, daß im Laufe der vier Hauptschuljahre das Lesen auf der Skala der beliebtesten Freizeitaktivitäten vom vierten auf den neunten und damit schlechtesten Platz rutscht. Die Zeitung als zusätzlicher und aktueller Lesestoff könnte wahrscheinlich den einen oder anderen Schüler vor dem Tiefschlaf bewahren.

Es mögen viele Gründe für die „Leseunlust" Jugendlicher maßgebend sein, sicher ist, daß Lesefreude und Lesevermögen eine große Rolle spielen und sich auch gegenseitig bedingen. Freude wird am ehesten aufkommen, wenn der Lesestoff interessant ist, betroffen macht, das heißt, wenn er Jugendliche in ihrer Lebenssituation „trifft". Vorausgesetzt, das Lesen ist nicht zu mühsam und anstrengend. Vorausgesetzt, die Technik des Lesens wird beherrscht. Diese Technik wird sich der Schüler aber nur durch Einüben aneignen, wozu er wieder eher bereit ist, wenn ihn der Lesestoff interessiert und fasziniert.

Interessante Zeitungsartikel bieten dem Lehrer daher eine hervorragende Möglichkeit, die Technik des Lesens mit seinen Schülern einzuüben, ihren Wortschatz zu vergrößern, ihre Sprachkompetenz zu fördern und damit eine wesentliche Voraussetzung für ihr kritisches Urteilsvermögen und ihre Handlungskompetenz zu schaffen. Wer der Sprache mächtig ist, wird auch die vielfältigen Möglichkeiten der sprachlichen Manipulation eher durchschauen und sich dem sprachmanipulierten Zugriff eher entziehen können. Eine wesentliche Voraussetzung für den mündigen Staatsbürger!

Daß auch Zeitungsverlage an einer verstärkten Einbeziehung der Zeitung in den Unterricht höchst interessiert sind, liegt auf der Hand. Längst gehören die Zeiten, in denen die Lektüre von drei Zeitungen als Bestandteil der täglichen Hygiene angesehen und so regelmäßig wie das Zähneputzen gehandhabt wurde, der Vergangenheit an. Reichweitenverluste als Folge tiefgreifender Veränderungen der gesellschaftlichen Lebensformen sind nicht wegzuleugnen. Durch die permanente Reizüberflutung hat sich unser Kommunikationsverhalten entscheidend verändert. In der Hektik des Alltags begnügen sich viele mit Kurzinformationen via Bildschirm und „Überschriftenzeitungen". Zeitungsverlage sind daher mehr als je zuvor herausgefordert, ihre Adressaten zum Zeitunglesen zu verführen, ihne/i die Zeitung als wertvolle und für den mündigen Staatsbürger unverzichtbare Informationsquelle nahezubringen.

Dies wird aber nur gelingen, wenn die Leser gelernt haben, dieses Medium effizient und kompetent zu nutzen. Da aber bekanntlich gilt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, da erwiesenermaßen Abendkurse zum Erlernen des Zeitunglesens nicht ausgebucht sind und das Fernsehen sich standhaft weigert, Lesekurse via Bildschirm anzubieten, sind Verleger gut beraten, wenn sie die pädagogischen Bemühungen der Lehrer unterstützen und mit Zeitungslieferungen begleiten.

Es ist erfreulich, daß die österreichischen Verleger dieses Gebot der Stunde erkannt und den Verein „Zeitung in der Schule" (ZiS, siehe Seite 14) gegründet haben. Die medienpädagogischen Zielsetzungen der Schule, junge Menschen nicht zum Konsum, sondern zu einer vergleichenden, selektiven und kritischen Mediennutzung zu führen, und das Interesse der Verlagshäuser, Schüler mit Zeitungen zu erreichen, können von ZiS auf sinnvolle Weise zusammengeführt werden.

Jenen Skeptikern von Lehrern, die immer noch fürchten, von den Verlagshäusern als „Zeitungskolporteure" mißbraucht zu werden und daher standhaft ihren Schülern die Zeitung vorenthalten, sei noch eine abschließende Überlegung angeboten:

Die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse ist auf Dauer nur gewährleistet, wenn Zeitungen auch finanziell überleben können, was auch wegen des Inseratenaufkommens auflagenabhängig ist. Da aber das Überleben der Zeitungen und die Freiheit der Presse alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, beide aber untrennbar mit der demokratischen Staatsform verbunden sind, sollten der Bestand der Zeitungen und die Achtung der Freiheit der Presse zu unseren vorrangigen Anliegen zählen. „ When the press is free and every man able to read, all is safe" hat Thomas Jefferson 1799 behauptet. Wenn damit kritisches Lesen, echtes Verstehen gemeint ist und nicht reines Buchstabieren, kann man dem Gedanken einiges abgewinnen.

Die Autorin ist Geschäftsführerin von „Zeitung in der Schule".

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