Maßstab: Nützlichkeit

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Die Universitätsreform stellte sich schamlos in den Dienst der Herrschaft von Nutzen und Verwertbarkeit.

Es war alles so schön geplant. Das Ministerium hat seit Jahren eine Diskussion zur Universitätsreform angeregt, hatte zur Stellungnahme aufgefordert und die Sprecher der Betroffenen eingeladen. Im Mittelpunkt der Reform steht die Autonomie. Universitäten sollen selbst entscheiden können: über Schwerpunkte in Forschung und Lehre, über die Gliederung ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen, über die Stellung der Mitarbeiter, die Mitbestimmung der verschiedenen Gruppen in den Gremien und über das Lehrangebot. Im Grunde gilt diese Autonomie dem gesamten wissenschaftlichen Betrieb. Dafür gibt es einen einzigen und allgemein einsichtigen Grund: Die Vernunft kann keinen anderen Richter über sich dulden als sich selbst. Das gilt besonders für die höchste Einrichtung, die Universität, das ist die radikale Botschaft, die sie der Welt zu vermitteln hat, und die einzige Forderung, der sie unterworfen ist.

Das klingt idealistisch und utopisch; und tatsächlich musste und muss sie sich ihre Autonomie und Freiheit immer wieder erkämpfen. Sie musste sich von der Bevormundung der Kirche ebenso befreien wie von der der Herrscher; aber noch deutlicher galt und gilt dieses Gebot für die Befreiung von der Herrschaft verordneter Ideologien und Parteiprogramme. Heute gilt der Auftrag der Behauptung der eigenen Autonomie eher gegenüber dem Zeitgeist. Dass die Träger der Wissenschaft diesem Ideal nicht immer nachgekommen sind, dass sie sich von herrschenden Phrasen haben vereinnahmen lassen, ist traurige Wahrheit. Aber Fälle des Verstoßes sind noch kein tragendes Argument gegen einen berechtigten Anspruch.

Bedrohte Freiheit

Autonomie ist deshalb kein vom Staat gewährtes Privileg, sondern eine mit dem modernen Verständnis von Wissenschaft aufs engste verknüpfte Bedingung. Gemeint ist natürlich nicht nur die Autonomie der Institutionen, sondern die Autonomie des Wissenschaftlers. Diese gilt es zu sichern. Jene hat die Bedingungen zu schaffen, unter der diese am besten garantiert ist, und jede Reform wird an der Fähigkeit gemessen werden, diese am besten zu sichern und zu schützen. Mit Recht fürchten Kritiker des neuen Gesetzes, dass diese Autonomie zwar verbal versprochen, in Wirklichkeit aber unterlaufen wird.

Autonomie gilt für Forschung und Lehre. Die Freiheit der Lehre ist vielfach bedroht, wenn sie auch ihrerseits von vielen als bedrohend empfunden wird. Zwar ist die Lehrfreiheit nicht mehr von Kirche eingeschränkt. An ihre Stelle ist eine zunächst wenig auffällige Kontrolle getreten, ihr Maßstab ist der Nutzen. Die von den Universitäten angebotene Lehre bzw. auch die Praxis muss brauchbar sein. Nutzen und Verwertbarkeit sind die maßgebenden Antriebe. Die geplante Reform stellte sich schamlos und ungeniert in den Dienst dieser Herrschaft, bei Planung und Wettbewerb, bei der Steigerung von "Qualität und Leistung", für die so genannten "Leistungsvereinbarungen" zwischen Universität und Bund, die "Evaluierung der Lehrveranstaltungen" von Studierenden mit dem Angebot, diese als scheinbar wirksame Form der "Mitbestimmung der Studierenden" auszugeben - unter dem Kriterium der Nützlichkeit. Die Perversion der Mitbestimmung als Ausdruck akademischer Freiheit kann zynischer kaum gedacht werden. Die Studierenden selbst kontrollieren das Maß der Effektivität, mit der sie den gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen werden sollen.

Nutzen ist Ausdruck von Herrschaft. Man kann Krankheiten und Seuchen bekämpfen, das Leben auch im Alter lebenswert erhalten, man kann die Kräfte der Natur für sich arbeiten lassen, ihre Energie für die eigenen Zwecke einsetzen, Feinde bekämpfen, sich selbst schützen. Pädagogische Bemühungen, die dem Nutzen dienen, nennen wir Ausbildung. Deren Notwendigkeit kann von niemandem bestritten werden. Auch werden Anstrengungen für die differenzierten Ausbildungen immer wieder notwendig sein. Durch sie sind besonders die Universitäten herausgefordert. Sie sollen im Anspruch ihres Niveaus durch Ausbildung den Wohlstand des einzelnen und das Wohlergehen des Staates sichern, auf diese Weise auch die Aufwendungen für sie rechtfertigen.

Unzeitgemäße "Bildung"

Damit verschiebt sich deren Aufgabenstellung. Aus Stätten der Bildung werden Ausbildungseinrichtungen, und Humboldt scheint nicht mehr zeitgemäß. Unabhängig von Humboldt bleibt der Universität aber ein über alle Ausbildung hinausgehendes Problem: Wo und wie lernt der Mensch, wie er mit seinem Wissen und Können umzugehen hat, damit der Schaden nicht größer wird als der Nutzen? Das klingt merkwürdig widersprüchlich. Gemeint ist die immer wieder geäußerte Sorge, wie denn der Mensch mit der ihm zuwachsenden Macht über Natur, Um- und Mitwelt verantwortlich umgeht.

Das ist nicht mehr eine Frage der Ausbildung, sondern nach unserem Sprachgebrauch eine der Bildung. Dieses Problem wird man auch nicht los, indem man den Begriff der Bildung aus dem Vokabular der Politik oder der modernen Pädagogik entfernt, von Kompetenzen und allen möglichen Qualifikationen redet. Das Problem bleibt und wird zur entscheidenden Frage aller Universitätsreform, wie man gerade in dieser höchsten Einrichtung Bildung und Ausbildung verbindet.

So lange sich die Universität dieser Aufgabe nicht stellt, so lange dieses Problem nicht einmal gesehen wird, bleibt jede Reform auf der Strecke. Und es ist ein beschämendes und besorgniserregendes Zeichen unserer Bildungspolitik, dass sie diese Fragen nicht einmal aufgreift. Wo aber das Niveau des Denkens zum Verstehen dieser Frage nicht reicht, oder wo sie als lästig abgewiesen wird, da verfällt die Reform der Kraft des Faktischen und damit der Vorherrschaft des Ökonomischen. Die Folgen sind katastrophal. Unter der Vorherrschaft des Nutzens verliert die Wissenschaft ihre Dignität. Sie definiert sich nicht mehr in der Suche nach Wahrheit; sie wird zum Instrument von Herrschaft und macht den Menschen zum bloßen Funktionsträger.

Wissen als Ware

Unter dieser Annahme wird der Anspruch, in der Ausbildung auch Bildung zu vermitteln, zur Illusion. Denn der Zweck des Lehrens und Lernens ist nicht mehr auf die Vermittlung wahren Wissens gerichtet, sondern auf die Weitergabe brauchbarer Informationen. Bildung als Entfaltung des Geistes im Ringen um begründete, wahre Erkenntnis ist nicht gefragt, sondern die Fähigkeit des Merkens von Kenntnissen, und die Anwendung mitgeteilter Informationen werden zum Zweck des Studiums.

Das Studium verkommt zur Informationsaufnahme, akademisches Lehren misst sich am sophistischen Geschick, viel an möglichst viele in möglichst kurzer Zeit weiterzugeben. Konsequenterweise wird das Wissen vom Ministerium, aber auch von Bildungsreferenten der großen Verbände als Ware definiert. Ware kann man kaufen. Sie ist ein verwertbarer, auch veräußerbarer Besitz. Sie stellt keinen Anspruch an den Besitzer; Ware hat keinen verbindlichen Charakter.

Ganz anders ist es beim Wissen. Wissen kann ich nur mein eigen nennen, wenn ich es mir mit eigener Gedankenanstrengungen erworben habe. Wer etwas sein Wissen nennt, muss für dessen Geltung eintreten, er muss es begründen, sonst bleibt es Scheinwissen und Täuschung.

Die wenigen Überlegungen dürften zweierlei deutlich gemacht haben: Wo das Wissen als Ware gesehen wird, wo man die Universität als eine Art Kaufhaus sieht, da ist für akademische Bildung kein Platz. Da wird man aber auch dem Anspruch von Ausbildung selbst nicht mehr gerecht. Das Denken wird auf kurzfristiges Funktionieren in der Hoffnung auf baldigen ökonomischen Erfolg reduziert, und die auch von der Wirtschaft immer wieder geforderte "Weiterbildung" wird zum sinnlos verordneten Zwang. Phantasie und Kreativität, selbständiges Denken und Verantworten werden überflüssig; das ist auch dem wirtschaftlichen Fortschritt nicht förderlich.

Achtung der Würde

Die Sorge um die Bildung in der Ausbildung hat aber noch eine weit über die dargestellten Fragen hinausgehende Bedeutung. Kant hatte als kategorischen Imperativ die Achtung vor der Würde des Menschen formuliert, dass diese niemals nur als Mittel sondern immer auch Zweck seiner selbst zu achten ist.

Akademisches Lehren und Lernen darf nicht übersehen, dass es auch im gegenwärtigen und zukünftigen Studium um den Menschen als Subjekt und Person geht, dessen Würde durch die Absicht seines Funktionierens nicht widerrufen werden darf.

Wenn Phantasie und Kreativität verkommen, wer wundert sich dann noch, dass das Denken sich in vorgedachten Bahnen erschöpft und langweilt, dass Politik in die Nähe zur Gleichschaltung gerät, dass der Zeitgeist zum Maßstab des Wertens wird. Man wird kaum behaupten können, dass die Konzeption des Wissens als Ware, dass das Studium als Artikulation von Informationen mehr als einen augenblicklichen ökonomischen Vorteil bringt, weder der Wirtschaft noch der Politik, weder der Kultur noch der Humanität des Menschen aufhilft.

Eine Universitätsreform kann nur gelingen, wenn die Antwort auf die Frage nach Bildung in und bei der Ausbildung versucht wird. Natürlich kann man den Unterschied nicht übersehen. Ausbildung bleibt funktionsgerichtet, ihr Curriculum ist vom Funktionszweck eindeutig festgelegt. Im Begriff der Bildung ist diese bloße Funktion zu durchbrechen, weil nach deren Sinn gefragt wird und deren Rechtfertigung zur Debatte steht. Dies ist das vornehmliche Geschäft akademischer Bildung. Nach Humboldt kommt es nicht darauf an, was der Mensch an Wissen erwirbt, "sondern nur auf seine innere Verbesserung und Veredlung".Die Unterschiede zwischen Bildung und Ausbildung werden also nicht aufgehoben, wohl in ihrer Verwiesenheit aufeinander gesehen. Das ist keine akademische Spitzfindigkeit, sondern die einzige Möglichkeit, die Würde des Menschen auch bei seinem Gebrauch als Mittel zu retten.

In dieser Frage ist auch das christlich-abendländische Erbe angesprochen, das den Menschen als Person, als Zweck seiner selbst anerkennt. Und es stimmt mehr als nachdenklich, wenn von einem Bildungsministerium der Mensch dem Nutzen und der Verwertbarkeit ausgeliefert wird; ein Ressort, deren Leitung einer Partei zugehört, die sich einem christlichen Denken - jedenfalls dem Programm nach - verpflichtet fühlt.

Der Autor ist emeritierter Professor für Pädagogik an der Universität Wien.

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