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Medizinstudium und Prüfungen

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Man begegnet häufig der Ansicht, daß das Bestehen von strengen Prüfungen ein erfolgreiches Studium beweise. Man möge nur streng .prüfen, dann sei alles in Ordnung. Diese Meinung ist irrig. Warum sind besonders in der Medizin erfolgreiche Prüfungen kein Beweis eines erfolgreichen Studiums?

Das Medizinstudium bringt in den klinischen Fächern zugleich mit dem systematisch aufgebauten Vortrag auch die entsprechenden Krankheitsfälle. Die Erkrankung wird gleichzeitig mit der Untersuchung des

Kranken erörtert. Wichtige Erkrankungen werden in allen ihren Abweichungen und ihrem Verlauf oftmals gezeigt und besprochen. Durch dieses Ineinandergreifen von mündlicher Belehrung und gesehenen, gewissermaßen erlebten Erkrankungsbeispielen bildet sich gedächtnismäßig und bildhaft nach und nach eine gute Verankerung des

Stoffes. Niemand wird einzelne drastische Bilder und Vorkommnisse der Vorlesung vergessen, die ein Krankheitsbild besser aufzeigen, als ein theoretisches Studium aus Büchern je kann, zum Beispiel, wenn ein tobsüchtiger Patient dem Vortragenden Professor blitzschnell eine Ohrfeige versetzt.

Dazu kommt, daß sich die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Fächern durch die im gleichen Studiumabschnitt besuchten Vorlesungen gegenseitig ergänzen und verankern. Man könnte den Stoff von weniger umfangreichen Fächern gut in einem Semester vortragen. Wenn trotzdem das Bestrebao dahin geht, die vorgeschriebene Stundenanzahl auf zwei Semester zu verteilen, so liegt dies nidit nur daran, daß manche Erkrankungen an die Jahreszeit gebunden sind, sondern auch darin, daß der Stoff sich durch die Verteilung des Unterrichtes auf einen längeren Zeitraum mit der Unterbrechung durch die Ferien besser einprägt. Denn Studium besteht in Wiederholung des Stoffes, das heißt im Vergessen, neuerlichen Lernen, wieder halb Vergessen, neuerlichem gründlich Lernen. Nur so erwirbt man sich wertvolles, unverlierbares Wissen.

Wie steht es nun mit den Prüfungen? Sehr viele Studenten eignen sich heute das für die Prüfung nötige theoretische Wissen in kürzester Zeit an. Sie haben die Vorlesungen mit ihrem systematischen Aufbau, mit den häufigen Wiederholungen und dem Vorzeigen der Krankheitsfälle unregelmäßig oder auch gar nicht besucht. Sie haben nicht die vielen lehrreichen Beispiele gesehen und miterlebt, die in der Vorlesung mit der oft so einprägsamen Befragung und Untersuchung des Patienten gebracht wurden. Viele dieser Studenten würden vielleicht richtig studieren, müssen sich jedoch den nötigen Lebensunterhalt durch Nebenbeschäftigung verschaffen und wollen trotzdem Ärzte werden. So werden vor jeder Prüfung ein oder zwei Einpaukkurse genommen. Außerdem verstehen viele Studenten sich bei den Prüfungen gewisse Erleichterungen zu verschaffen, die nicht erlaubt sind, gegen die man aber oft vergeblich ankämpft.

Man muß sich manchmal über das Gedächtnis einzelner Studenten wundern, welche die Skripten, das sind kurze Zusammenfassungen des Prüfungsstoffes, beinahe wörtlich hersagen, auch mit den darin enthaltenen Fehlern. Aber wie gewonnen, so zerronnen: Was nicht im Laufe der Studienzeit „erarbeitet" wird, davon bleibt nur wenig haften. In den Einpaukkursen werden zwar auch Krankheitsbeispiele gebracht, aber was sind 20 oder 30 Fälle im Vergleich zu der großen Zahl von Fällen, die im Verlaufe der klinischen Vorlesungen gezeigt werden! In meinem eigenen Fach, der Augenheilkunde, waren es in den letzten beiden Pflichtsemestern nahezu 800 Krankheitsfälle. Trotzdem haben Kurse ihre Be rechtigung, aber nur als Wiederholung und Zusammenfassung des Vorlesungsstoffes. So kommt es bei den Prüfungen vor, daß ein Student zuerst sehr gut entspricht, dann aber auf einmal von einer wichtigen Erkrankung nichts weiß, die im Verlaufe der Vorlesungen in allen ihren Abweichungen und ihrem Verlauf viele Male vorgezeigt und besprochen wurde. Im Kurs wird jede Erkrankung nur einmal durchgenommen, die wichtige wie die weniger wichtige. So kann der Student dann auf die wichtige Erkrankung ebenso leicht vergessen wie auf eine unwichtige. Wie wertvoll das klinische Studium mit Vorzeigen der Erkrankung ist, mag man auch daraus ersehen, daß wir es einem unserer Assistenten ganz besonders hoch anrechnen, wenn er eine seltene Erkrankung richtig erkennt, die er vorher nie gesehen hat, sondern nur aus Büchern kennt. Die genaueste Beschreibung und die besten Abbildungen können das Vorzeigen einer Erkrankung niemals ersetzen. Auch das 60 wichtige Befragen des Kranken lernt man am besten in der Vorlesung am Beispiel des Vortragenden.

Aus dem Vorgebrachten wird jeder ein- sehen, daß bestandene Prüfungen kein Beweis dafür sind, daß sich der Student den Stoff der Medizin in befriedigender Weise angeeignet hat. So hatte ich, als ich noch selbst Student war, durch ein Auslandssemester in Paris keine Gelegenheit, einen bestimmten Stoff vorlesungsmäßig zu verarbeiten. Obwohl ich die betreffende Prüfung damals mit Hilfe eines Kurses gut bestanden habe, weiß ich heute von diesem Teilfach der Medizin nur mehr wenig.

Deshalb sind in der Medizin Studienverkürzungen ein Unding. Sie könnten im mehr theoretischen Vorklinikum noch zugegeben werden, nicht aber im klinischen Studienteil und gerade für den klinischen Studienabschnitt sind der Mehrzahl der Studenten in den letzten Jahren in Rücksicht auf die durch den Krieg verlorene Zeit direkt oder auf Umwegen ein Semester, ja vielen zwei klinische Semester geschenkt worden. Letzteres wirkt sich folgendermaßen aus: Wer zum Beispiel am 31. März 1948 sein erstes Rigorosum beendet hat, das ist die Abschlußprüfung des vorklinischen Teils unseres Medizinstudiums, konnte bereits zu Anfang des Monats Juni 1949, also schon nach weniger als l’ i Jahren klinischen Studiums, mit den Endprüfungeu beginnen. Das klinische Studium dauert nämlich schon normalerweise gar keine sechs Semester. Das fünfte Semester„ in dem der Student die Vorprüfungen ablegt (Anatomie, Physiologie, Histologie), wird schon als erstes klinisches Semester gerechnet, selbst wenn der Student in diesem Semester gar keine klinische Vorlesung ge-hört hat. Er könnte es ohnedies kaum. Dabei brstreckt sich der Prüfungstermin, der noch zum fünften Semester gerechnet wird, einen vollen Monat in das klinische sechste Semester hinein.

Seinerzeit war dies nicht der Fall. Da weiter mit den Endprüfungen schon zu Anfang des letzten Monats des zehnten Semesters begonnen werden kann und’ diese ersten Prüfungen besonders schwierig sind (pathologische Anatomie und Arzneikunde), so muß sich der Student bereits während des zehnten Semesters auf diese Prüfung vorbereiten. Es ist also auch dieses zehnte Semester kein vollwertiges klinisches Semester. Denn man kann sich nicht auf die Prüfungen in schwierigen Fächern vorbereiten und sich zu gleicher Zeit voll dem klinischen Studium widmen. Nun wurde zu den normalerweise bestehenden Verkürzungen des klinischen Studiums, das heute fast nicht mehr ausreicht, oft zusätzlich eine weitere Verkürzung von zwei Semestern gegeben. Dies ist kein Studium mehr, sondern bloß Prüfungsvorbereitung. Das Studium soll auf den Beruf ausgerichtet sein, nicht auf die Prüfungen. Würde man aber alle jene Studenten durchfallen lassen, bei denen man während der Prüfung merkt, daß es sich um eingepauktes Wissen handelt, so würde dies heute gewiß die Hälfte der Prüflinge betreffen.

In den guten Universitäten der USA, wo es wegen des meist bestehenden Internats der Studenten ein leichtes ist, ihre ständige Mitarbeit zu beaufsichtigen, darf ein Student, der mehr als 10 oder 20 Prozent der Studienzeit versäumt hat — es schwankt dies bei den verschiedenen Universitäten —, nicht zur Prüfung antreten. Aus welchem Grund immer das Versäumnis verursacht wurde, der Student verliert dieses Semester (siehe Prof. Hoff, Die medi zinische Erziehung in Amerika, „österreichische Ärztezeitung“, Heft 8, 1949). Wir in Österreich haben weder die Möglichkeit einer solchen Kontrolle, noch würde sich dieselbe derzeit überhaupt durchführen lassen. (In manchen Vorlesungen sind viermal so viel Hörer inskribiert als Sitzplätze vorhanden sind!)

Ich verkenne nicht den Wert der Lehr- und Lernfreiheit, die verantwortungsbewußte Persönlichkeiten heranbilden soll und fast keinen Zwang und mit Ausnahme der praktischen Übungen keine Kontrolle kennt. Aber sie hat ihre schweren Nachteile. Schließlich soll auch der Professor, trotz der Lehrfreiheit, den gesamten Stoff vortragen und nicht nur sein Lieblingsgebiet. Andererseits ist leider für die meisten Studenten eine gewisse Nötigung zur Ausübung ihrer Pflichten erforderlich.

Wer von unseren Studenten lernen will und auf ein verkürztes Studium verzichtet, kann sich auch heute noch bei uns sehr gut ausbilden. Die vielen Studenten, die sich aus den verschiedenen Ländern mit ganz anderem Unterrichtssystem hier zum Studium anmelden, sind ein Beweis dafür, daß das Medizinstudium in Wien immer noch hoch gewertet wird.

Hier muß auch gesagt werden, daß das Werkstudententum in der Medizin nur auf die Ferien beschränkt sein sollte, weil es sonst die Mitarbeit in den Vorlesungen hindert oder die Arbeitskraft des Studenten für sein Studium wesentlich herabsetzt. Deshalb sollte der Staat besonders fähige unbemittelte Studenten, aber auch nur diese, mit entsprechenden Stipendien beteilen, was heute noch nicht in genügendem Maße geschieht. Bei allen anderen Studienrichtungen ist Werkstudententum eher mit dem Studium vereinbar.

Überhaupt liegen in der Medizin die Verhältnisse wesentlich anders als bei anderen Berufen. Den schlechten Rechner erkennt man an Rechenfehlern, den schlechten Ingenieur an Konstruktionsfehlern, den schlechten Schuster am drückenden Schuh usw. Ärztliche Fehler aber sind meist nicht nachweisbar. Der Kranke kann ja trotz unrichtiger Behandlung gesund werden, nur dauert dann die Erkrankung meist länger. Ferner darf man den günstigen psyehischen Einfluß der ärztlichen Persönlichkeit auf den Verlauf von vielen Krankheiten nicht unterschätzen. So erklärt es sich, daß Laien durch längere Zeit als Ärzte tätig sein können, ohne daß man dies sogleich bemerkt. Oft waren solche Laien als Krankenhelfer in einem Krankenhaus beschäftigt und konnten sich so einige medizinische Kenntnisse aneignen. Mangelhaft ausgebildete Ärzte ergänzen meist ihre Ausbildung in der Zeit ihrer Krankenhaustätigkeit oder erst in ihrer späteren Privatpraxis, aber das Lehrgeld dafür muß der Patient zahlen. Di medizinische Studienzeit ist eine unvergleichliche Zeit des theoretischen und praktischen Lernens, welche in ihrer Art niemals wiederkehrt. Sie kann auch niemals nachgeholt werden.

Wenn ich mich auf Grund der Erfahrungen meiner Dekanatszeit entschlossen habe, zu unserem derzeitigen Medizinstudium öffentlich Stellung zu nehmen, so geschieht dies, um weite Laienkreise über das Wesen des medizinischen Studiums aufzuklären. Denn bedauerlicherweise ist der Ärztestand weder im Nationalrat noch im Unterrichtsministerium in irgendeiner Form vertreten und schon aus diesem Grunde sollte die Autonomie der Hochschule in reinen Studienbelangen von der Vorgesetzten Behörde voll geachtet und gesetzlich genau verankert werden.

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