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Mehr Licht!

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„Licht! Mehr Licht! Die Schatten wachsen

Und mein Tod ist in der Näh'.

Reißt die Fenster auf! Weit offen!

Lidit! Mehr Licht! Bevor ich geh' ...“

Frances E. W. Harper: „Let the Light enter“, The dying words of Goethe)

Seltsames Beispiel für die Weltweite geistiger Fernwirkung: die letzten Worte des größten deutschen Dichters werden ein Menschenalter später innerlich erlebt und zum Gedicht gestaltet von einer amerikanischen Negerin, der Angehörigen eines Volks, das mitten in dem so lichtfrohen, fortschrittsstolzen und humanitätserfüllten 19. Jahrhundert in Sklaverei und haustierhafter Dumpfheit dahindämmert — bis es dann nach der Emanzipation einem geschichtlich denkwürdigen Erziehungsversuch unterworfen wird.

Das Leben der Negerdichterin Frances E. W. Harper (1825 bis 1911) selbst kennzeichnet die verschiedenen Abschnitte in den Jahrzehnten der großen Wandlung. Einerseits steht sie in der Reihe jener wenigen Angehörigen ihres Volks, die durch glückliche Umstände, außerordentliche Begabung und das Wohlwollen menschenfreundlicher Weißer begünstigt, noch im Zeitalter der Sklaverei Gelegenheit zu geistiger Höherentwicklung haben — in einer Reihe, die im* 18. Jahrhundert eine andere Dichterin, Phillis Whealey, eröffnet und in der Frederick Douglaß, der entflohene Sklave und glühende Propagandist der Emanzipation, vielleicht die bedeutendste Gestalt ist. In den Jahren vor dem Bürgerkrieg arbeitet Frances Harper dann aktiv in der „Underground railroad“, der Organisation, die den entsprungenen Sklaven aus dem Süden die Flucht'nach dem Norden ermöglicht, sowie als ständige Vortragende in der Anti-Slavery Society von Maine. Als Lehrerin ihres Volkes aber nimmt sie schließlich teil an dem großen Experiment, das nach der Emanzipation und dem Bürgerkrieg einsetzt, an dem Versuch, auch dem amerikanischen Neger die Früchte höherer Bildung zu vermitteln.

Es ist ein eigenartiges Experiment, das in mehrfacher Hinsicht unter besonderen Umständen erfolgt: In einer Zeit, die einerseits erfüllt ist vom Glauben an den Fortschritt, an die Erziehbarkeit und die hohen geistigen Kräfte des Menschen, die andererseits aber doch auch unter dem stärksten Einfluß der Biologie und des Darwinismus steht, in der so überaus erziehungsfreudigen amerikanischen Nation„ die die Lehre von der Gleichheit aller Menschen zum ersten Grundsatz ihres Gemeinschaftslebens erhoben hat, in der aber andererseits, besonders am Hauptschauplatz dieses Experiments, in den Südstaaten, unter der Nachwirkung des Bürgerkriegs die Rassengegensätze zur lodernden Flamme angefacht sind.

So stehen von Anfang an die Meinungen einander schroff gegenüber: die einen, unter ihnen vor allem die zahlreichen humanitär gesinnten Erzieher aus dem Norden, vertreten einen sittlich hochstehenden, optimistischen, aber manchmal die tatsächlichen Schwierigkeiten unterschätzenden erzieherischen Idealismus, während im Süden ein skeptischer Rassendeterminismus vorherrscht, dessen tiefere Beweggründe von ehrlicher Einicht in die Schwierigkeiten des Problems über uneingestandene Ressentiments bis zu glühenden Haßgefühlen schwanken. Aber auch bei den Negern selbst beginnt, nachdem der Rausch der ersten Begeisterung vorüber ist, bald der Streit um den Weg und um das Tempo, mit dem man diesen Weg zur höheren Bildung zurücklegen soll. Zeigt es sich doch bald, daß man die Entwicklung, für die die abendländisdie Menschheit Jahrhunderte benötigt hat, auch bei bestem Willen nicht in wenigen Jahrzehnten zurücklegen kann, daß Rückschläge und Enttäuschungen unvermeidlich sind, zumal zunädist nur geringe Möglichkeiten bestehen für die praktische Verwertung der an den neugegründeten Negerschulen und -Universitäten erworbenen höheren Bildung.

In dieser — etwa ein Menschenalter nach der Emanzipation besonders kritischen — Situation wird Booker T. Washington (1858 bis 1915), der große Erzieher seines Volkes. Er erkennt die Notwendigkeit eines mit den gegebenen Tatsadien rechnenden, stufenweisen Aufbaus und vermittelt daher in dem 1881 von ihm gegründeten Tuskegee-Institute in Alabama seinen Schülern vor allem eine bessere landwirtschaft--liche, handwerkliche und technische Ausbildung. Deutlich ist die Verwandtschaft seiner Ideen mit den Strömungen in der amerikanischen Pädagogik, die vor allem die Vermittlung praktisch verwertbarer Kenntnisse und Fähigkeiten als oberstes Ziel der Erziehung betrachtet, mit den Zielstellungen, die im Pragmatismus ihre philosophische Begründung und in John Dewey ihren entschiedensten Vertreter gefunden haben.

Washingtons Programm einer schrittweisen Erziehung der amerikanischen Neger — wie er es vor allem in einer berühmt gewordenen

Rede auf der Ausstellung von Atlanta (1895) vertrat — ist zwar von vielen einsichtigen Weißen mit begeisterter Zustimmung begrüßt, auf der anderen Seite aber von den grundsätzlichen Anwälten des gleichen Rechts auf höhere Bildung, vor allem von den radikalen farbigen Politikern und Publizisten wie William E. B. du Bois und Kelly Miller scharf bekämpft worden. Der reichlich utopische „Panafrikanismus“ von Marcus Garvey hat schließlich in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg beiden Negern selbst zur Stärkung der gegen eine völlige Assimilierung und auf die Förderung einer eigenständigen Negerkul-t u r gerichteten Bestrebungen geführt.

Heute, über achtzig Jahre nach der Emanzipation, erscheint die Frage nach Gelingen oder Scheitern des großen Experiments berechtigt, wenn eine eindeutige Antwfctt vielleicht auch heute noch nicht möglich ist. In der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne haben die Neger auf vielen Gebieten bedeutsame Gestalten hervorgebracht: Von Booker T. Washington an, dessen Selbstbiographie „Up from Slavery“ zu den bedeutendsten amerikanischen Lebensbildern gehört, über dessen Freund und Mitarbeiter, den berühmten Naturwissenschaftler George Washington Carver,“ dem Amerika auf dem Gebiet der Pflanzenzucht und der Ersatzmittelchemie eine Reihe wichtigster Entdeckungen verdankt, über Paul Lawrence Dunbar, der, als er 1906 vierunddreißigjährig starb, in die erste Reihe der amerikanischen Lyriker gehörte, bis zu den heute Lebenden, dem Schriftsteller Richard Wright, dem Schauspieler Paul Robeson und der begnadeten Sängerin Marian Anderson, um nur die Bedeutendsten zu nennen. Im Konzertsaal und auf der Bühne, am Tanzparkett und auf dem Sportplatz haben trotz schwerer Hemmnisse die Kinder des schwarzen Erdteils eine sichere Stellung errungen, ja auch auf die Kultur ihrer weißen Mitbürger einen nicht unwesentlichen Einfluß ausgeübt. Vor altem die Neger des Nordens stellen eine Art geistiger Elite dar,.da seit Generationen die geistig regsameren Angehörigen des Volkes immer wieder nach dem Norden gingen. Reihenuntersuchungen der Armee haben daher kürzlich bei diesen aus den Nordstaaten stammenden Negern eine durchschnittlich höhere Intelligenz quote ergeben als bei den Weißen des Südens — eine 4 Tatsache, die von der Negerpresse begreiflicherweise sehr stark ausgewertet wurde.

Wenn auf der anderen Seite manche ursprünglich gehegte hochgespannte Erwartung sich bis heute noch nicht erfüllt hat, wenn die Erziehungsversuche als Ergebnis manchmal eine gewisse Unausgeglichenheit und — ewiges Problem aller Bestrebungen zur kulturellen Hebung breiterer Schichten — nicht echte Bildung, sondern die so gefährliche Halbbildung gebracht haben, so muß man sich gerechterweise stets die besonderen Schwierigkeiten vor Augen halten, die dqp. sozialen, geistigen und kulturellen Aufstieg des amerikanischen Negers bis heute entgegenstehen. Die Tatsache ist in Rechnung zu stellen, daß „es den Negern niemals erlaubt war, den vollen Geist der westlichen Kultur zu erfassen, daß sie irgendwie in ihr, aber nicht aus ihr lebten“ (Richard Wright). Zieht man alle hemmenden Faktoren in Betracht, so muß man erkennen, daß die Farbigen in den Vereinigten Staaten über einen beachtlichen Reichtum an Begabungen verfügen. Eine Erklärung dafür mag in der biologischen Spannung liegen, die durch die Mischung der verschiedensten nach Amerika verpflanzten afrikanischen Völker sowie durch den reichlichen Zuschuß an weißem und Indianerblut in einer Art „farbigen Schmelztiegel“ begründet wurde.

Die von der weitverbreiteten Wochenschrift „Time“ in ihrem aufsehenerregenden Weihnachtsartikel 1946 erneut festgestellte Tatsache, daß die „Spirituals“, die religiösen. Negerlieder, die einzige ursprüngliche religiöse Kunst Amerikas darstellen, zeigt, wo die Grundlagen einer eigenen Kultur 'der amerikanischen Farbigen liegen: in ihrer tiefen Religiosität und ihrem starken Christentum, wobei zwischen den nichtkatholischen Glaubensgemeinschaften unter den Negern die Baptisten und Methodisten am stärksten vertreten sind. Hier, in ihrem starken, ursprünglichen Glauben verfügen die amerikanischen Neger über einen Kräftevorrat, “der ihnen die seelische Überwindung vieler Hindernisse erleichtert und zugleich die Gewähr für ihre zukünftige kulturelle Leistung geben mag. Die schlichten Worte,mit denen das eingangs erwähnte Gedicht von Frances E. Harper schließt, kennzeichnen in so ergreifender Weise die geistige und seelische Lage ihres seit Generationen aus tiefer Not nach jenseitiger Tröstung verlangenden Volkes:,Nicht um .größ'rc Gclstesgäfen, Audi um tief're Einsicht nicht, Nein, der Dichter flüstert sterbend Ein Gebet um Licht, mehr Licht. All der angehäufte Lorbeer Hat verloren sein Gewicht,

Und des Dichters Sehnen gipfelt Jetzt in dem Gebet um Licht. Gnäd'ger Gott, wenn unsrer Leben Tsgtraum schwindet unsrer Sicht, Segne unser ahnend Streben Dann Uein mit Lieht, mehr Lieht!

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