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Menschen ohne Zukunft?

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Die Überfüllung der akademischen Berufe und der unablässig anhaltende übermäßige Andrang zu den Hochschulen sind heute allgemein bekannt. Man liest darüber in der Tagespresse, hin und wieder streift ein Redner diesen unliebsamen Punkt. Leider bleibt es meist bei der Feststellung, dieser Zustand sei ungesund. Der Jugend gibt man dann noch den mehr oder minder gut gemeinten Rat, keine akademische Laufbahn einzuschlagen. Im übrigen läßt man den Dingen ihren Lauf...

Der Wiener Katholischen Akademie gebührt das Verdienst, als erste Institution versucht zu haben, den Problemen tatsächlich nahezutreten. In dem Zyklus „Die Berufsnot der akademischen Jugend als soziologisches Problem seit 1914“ brachte Universitätsprofessor Dr. Wilhelm W i n k 1 e r zunächst die statistischen Tatsachen, sodann zeigte Universitätsprofessor Dr. Degenfeld-Schönburg die Ursachen des Aka-demikerüberschusiGS auf und Dr. Anton

Burghardt schlug — als erster — durchführbare Lösungsversuche vor.

Die Ausführungen der drei Referenten in Kürze: Nach den Angaben der Statistik ist die Hörerzahl an den österreichischen Hochschulen beständig gestiegen, bis 1910 entsprach dieser Anstieg der Vermehrung und den zunehmenden Bedürfnissen der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der Frauen am Hochschulstudium betrug im Wintersemester 1910/11 zwei Prozent, im Studienjahr 1948/49 bereits 22 Prozent. Daneben wuchs aber auch die Zahl der männlichen Hörer immer mehr. Heute übersteigt das Angebot an Mittelschullehrern den Bedarf schon um mehr als das Doppelte. Wien hat beispielsweise im Jahre 1950 allein 450 beschäftigungslose Probelehrer und Probelehrerinnen. Bei den Medizinern stehen einem durchschnittlichen jährlichen Ausfall von 221 Ärzten 600 bis 700 junge Doktoren gegenüber. Österreich verfügt zur Zeit annähernd über 50.000 Akademikerstellen, von denen im Laufe eines Jahres rund 1500 neu besetzt werden. Bei den derzeitigen Verhältnissen ergibt dies einen jährlichen Überschuß von 1500 bis 2000 Akademikern, also von 100 bis 125 Prozent.

Nach der Darstellung Professor Degen-feld-Schönburgs ist der heutige Akademikerüberschuß auf folgende Tatsachen zurückzuführen: Österreichs verhältnismäßig schwach ausgebaute Wirtschaft bot schon vor dem ersten Weltkrieg weniger jungen Menschen eine Aufstiegsmöglichkeit als die wirtschaftlich aufstrebenden Länder (zum Beispiel Amerika, Deutschland). Die Studiengebühren waren in Österreich schon immer sehr niedrig. Die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst wurde in unserem Vaterlande erst durch die Matura erworben, nicht wie in Deutschland bereits drei Jahre vor der Reifeprüfung. 1918, nach dem Zusammenbruch, kamen als weitere Ursachen dazu: die Stauung durch die Heimkehrer, die Zunahme des Frauenstudiums, die ziersfamilien aus allen Teilen des ehemaligen Kaiserreichs in Restösterreich, die von der Wirtschaftskrise hervorgerufene Arbeitslosigkeit und das Werk-studententum. Nach 1945 bedingten der Flüchtlingszustrom und das nunmehr auftretende Berufsstudententum erneut eine Erhöhung der Hörerzahl an unseren Hochschulen, die alten Ursachen wirkten daneben unvermindert weiter. Eine Ergänzung zu dieser Darlegung gab Hofrat Professor Meister in der Diskussion. Seiner Ansicht nach hat sich in Wien und Niederösterreich infolge der Zentralisierung der Monarchie allmählich ein Zentrum von überdurchschnittlich begabten Menschen herausgebildet. Für die Gegenwart stellte er fest, daß jedes Studium von Anfang an viel zu leicht sei und verurteilte es, daß die allgemeine Hochschulreife außer von den Mittelschulen auch von anderen Lehranstalten verliehen werden könne.

Dr. Burghardts Lösungsversuche sehen folgende Maßnahmen vor: Um einen Teil der Maturanten vom Hochschulstudium abzuhalten, sollen Abiturientenkurse zur Überführung in praktische Berufe abgehalten werden, dem Reifezeugnis selbst aber müsse eine größere Bedeutung zugemessen werden. Doktor Burghardt hält auch eine Trennung des Hochschulstudiums in ein allgemeines Bildungsstudium nach Vorbild der angelsächsischen Länder und in eine gesonderte Ausbildung für künftige Wissenschaftler für eine notwendige Neuerung. Um aber den beschäftigungslosen Akademikern so rasch als möglich eine ihrer Vorbildung entsprechende Arbeit zu geben, regte er an: Der Staat muß überall dort Akademiker anstellen, wo eine Besetzung durch Akademiker gerechtfertigt ist. Bei den Finanzämtern wären rund 1000 Steuerprüferstellen an Akademiker zu vergeben. Auch bei Baubehörden, in Schulverwaltungen und Amtsvorstehun-gen könnten Akademiker in größerer Zahl eingesetzt werden, ebenso als Haupt-schuilehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte und für die Fremdsprachen. Aus dem außerordentlichen Staatshaushalt müssen endlich Mittel für die Ordnung unserer Bibliotheken, zur Durchführung notwendiger statistischer Aufstellungen, für wissenschaftliche Nach-holungsarbeiten und für die Katalogisierung der Archive aufgebracht werden. Diese produktive Arbeitslosenfürsorge ist in einem Sozialstaat unbedingt notwendig. Darüber hinaus soll der Staat für Verleger, für Buch- und Steuerprüfer, für gewisse Stellen in technischchemischen Betrieben, im Außenhandel und für verantwortungsvolle Posten in der Presse eine entsprechende akademische Ausbildung zur Voraussetzung für die Berufsgenehmigung machen. Ein Akademikerschutzgesetz und ein Akademikereinstellungsgesetz könnten die rechtliche Grundlage dafür schaffen.

Dem Besucher dieser Vorträge drängte sich vor allem ein Eindruck auf. Die Studierenden, die doch von den aufgeworfenen Fragen am unmittelbarsten angesprochen werden, waren unter den Zuhörern am spärlichsten vertreten. Wer die geistige und seelische Situation des Großteils unserer akademischen Jugend kennt, sieht darin keine zufällige Erscheinung, sondern ein charakteristisches Anzeichen. Die Mehrzahl unserer Studenten glaubt heute nicht mehr an eine Lösung ihres dringendsten Problems, weil sie bisher nicht einmal Ansätze dazu gesehen hat. Sie will davon auch nicht viel hören; die kleinen Sorgen des Alltags, die Aufbringung der Mittel für das Studium, die Wohnungsfrage, die Bekleidungssorgen stumpfen den einzelnen ab. Diese Gedankengänge — es sind die von Tausenden — sind ernst zu nehmen. Die Jugend, deren Teilnahmslosigkeit an geistigen Auseinandersetzungen wir beklagen, hat aber zu-mindestens ein Ziel, auf das sie hinarbeitet: den Arbeitsplatz. Man mag dies vielleicht materialistisch empfinden, man mag darüber streiten, ob es richtig ist, die berufliche Sicherung zum Ausgangspunkt einer geistigen Erneuerung zu machen, ob das vivere vor dem philo-sophari kommt oder umgekehrt. Tatsache ist, daß jedenfalls auch der geistige Arbeiter zu seiner Entfaltung zumindest ein Existenzminimum haben muß. Ist dieses aber ernstlich in Frage gestellt, so verschwimmen die Ideale nur allzu leicht in der Ferne.

Die Verantwortung für eine rasche und weitgehende Behebung der Berufsnot unserer akademischen Jugend lastet heute schwerer denn je auf denen, die eine solche Lösung herbeiführen könnten. Dr. Burghardts Vorschläge verdienen deshalb eine Beachtung, die weit über den Rahmen der Katholischen Akademie hinausgeht. Sie sind Anregungen, die aufgegriffen und verarbeitet gehören. Auch an anderen Stimmen wird es, sobald eine ernsthafte Diskussion begonnen hat, nicht fehlen. Davon aber, ob mit tauglichen Mitteln an eine ernste Lösung dieses Problems geschritten wird, hängt nicht nur das Schicksal von ein paar Tausenden jungen Akademikern ab, sondern — dies darf wohl ohne Übertreibung gesagt sein — das Gesicht des künftigen Österreich.Dr. Karl Weng er

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