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Missionsland Europa

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Eine internationale Enquete in Wien beschäftigte sich vor einiger Zeit mit der europäischen Priesterfrage. Einem nunmehr veröffentlichten umfangreichen Bericht des Internationalen Katholischen Instituts für kirchliche Sozialforschung darüber sind die folgenden Daten und Gedanken entnommen.

Das „katholische Österreich“ ist ein priesterarmes Land.

Es hat 6646 Priester, von denen 4350 in der Pfarrseelsorge tätig sind. Auf 1439 Katholiken kommt ein Seelsorger. Im Verhältnis von Seelsorger und der Zahl der von ihnen zu betreuenden Katholiken steht Österreich in Europa an vorletzter Stelle. An letzter Stelle kommt das ständestaatliche Portugal. >.

Die österreichische Situation wird aber durch das Seelsorgephänomen „Wien“ verdeckt. Löst man Wien aus der Ermittlung heraus, kommen in Österreich auf einen Priester 803 Katholiken (in der Deutschen Bundesrepublik, die großen Städte eingeschlossen, sind es 946). In Österreich studierten 1958 675 junge Männer Theologie. Auf einen Theologen kommen in Österreich gleich viele Katholiken wie in der Bundesrepublik, nämlich 7475. einem Theologen stehen 6,1 Priester gegenüber. In Wien aber kommt auf 20.351 ein Theologe. Eine alarmierende Zahl.

Die Diözese lebte stets von lebenden „Subventionen“. Zwischen 1840 und 1914 kamen allein aus Böhmen und Mähren 43 Prozent der Priester der Diözese, aus ihrem eigenen Bereich aber nur 22 Prozent. Nach 1945 kam die letzte Hilfe von auswärts: 120 Flüchtlingspriester. Ausfall an Priestern und unzureichender Neuzugang haben dazu geführt, daß derzeit in der Diözese nicht weniger als 1000 Seelsorger fehlen.

In Italien ist die Zahl der Priester seit 1871 um die Hälfte zurückgegangen, während sich im gleichen Zeitraum die Bevölkerung verdoppelt hat. Das bedeutet also eine relative Verminderung auf ein Viertel. Vor allem ist der Rückgang im Bereich des Weltklerus besonders hoch, während im gleichen Zeitraum der Ordensklerus von 9000 auf 39.000 gestiegen ist. Ganz augenfällig ist die Verminderung in der Diözese Rom, die bei drei Millionen Seelen im Jahre 1957 nur zehn Priesterweihen aufzuweisen hatte. Von den Neupriestern waren lediglich zwei gebürtige Römer, ein Beweis des Dariii ederliegens der Seelsorge gerade dort, wo man es bis vor wenigen Jahren nicht vermutet hätte.

In Frankreich ist zwar die Zahl der Priester in den letzten zehn Jahren um 2,8 Prozent gestiegen, die Bevölkerung ist aber gleichzeitig um 6,2 Prozent gewachsen. In Paris fehlen neben 658 Kirchen und Gottesdienststätten ungefähr 4000 Priester. Besonders arg sind selbstverständlich die Verhältnisse in Osteuropa, wo nicht weniger als ungefähr 17.000 Priester fehlen.

Was sind die Ursachen dieses Defizits?

Der geistliche Stand fesselt die Jugend nicht mehr wie ehedem. Gesellschaftliche und geistige Einsamkeit, die vor allem dem Weltpriester aufgelastet sind, wirken ebensowenig anziehend wie die oft spontane Erschöpfung des Priesters in Nebensächlichkeiten. Die Jugend will im Priester heute zuerst den Priester sehen, den Spender der Sakramente und den Künder des Wortes — und nicht den Sportkaplan, den Musikkaplan, den Autokaplan, einen Menschen, der sich faktisch laisiert hat und den Sachbereichen des Lebens verfallen ist.

Zu den in vielen Fällen unzureichenden Selbstdarstellungen des Priesters in der Gegenwart kommt noch in den Augen vieler junger Menschen der nunmehr 3lles andere denn gehobene soziale Status, den der Priester in den Augen der Welt einnimmt. Im vergangenen Jahrhundert war in Europa — England ausgenommen — der Priester in den Augen der Welt Angehöriger eines Herrenstandes. Die Priesterweihe war daher auch ein Signum des Eintrittes in einen gehobenen Stand. In der Gegenwart aber ist der Priester eher Bruder unter Brüdern und gehört oft nicht einmal im Dorf zu den Honoratioren, er ist ohne sozialen Eigenstand, der aber in einer von Prestigesehnsüchten bestimmten Gesellschaftsordnung seine gewichtige Bedeutung hat.

Nicht weniger von Einfluß für den geringeren Stand an Berufungen ist der Umstand, daß die Kirche heute in einem Konkurrenzkampf mit den anbietenden Freizeitmächten, mit dem Lebensstil dieser Zeit, steht, der auf Maximierung weniger von Einkünften als von Komfort abgestellt ist. Die jungen Menschen dieser Tage passen sich meist widerstandslos den Chancen an, die ihnen verfügbar sind, während der Lebensstil des Priesters (vor allem des Seelsorgers) von ganz anderer Art sein muß.

Auch die Seminarerziehung ist — nach Ansicht von Referenten auf der Enquete — eine der Ursachen für den Rückgang der Beharrungszahl. Die Erziehung in den Seminarien hat sich noch nicht an das technische Zeitalter angepaßt, keinesfalls aber durchweg vermocht, den inneren Menschen zu erfassen.

Von nicht geringem Einfluß auf die Zahl der Berufungen ist die Verstädterung. Einerseits verringert sich die Zahl der kinderreichen Bauernfamilien, die das stärkste Reservoir für Berufungen waren und sind, anderseits heißt Verstädterung Herausbildung von Großpfarren, in denen der Kontakt zwischen Seelsorgern und Katholiken nur unzureichend ist.

Was ist zu tun? Allgemein wurde auf dem Kongreß die Ansicht vertreten, daß der Beruf des Priesters in Hinkunft anziehender dargestellt werden müsse. Das ist dann der Fall, wenn der Priester vor aller Welt in seinem Verhalten eine Rückkehr zum abenteuerlichen Einsatz im Dienst einer missionarischen Idee andeutet. Die dokumentierte Hingabe des Priesters an seinen Beruf, nicht sein Verfallensein an die Sachwelt, macht den priesterlichen Beruf in einem besonderen Sinn wieder „lohnend“. Nicht der „Photokaplan“ ist also Attraktion, sondern der Seelsorgekaplan.

Soweit der Stand des Priesters seine Anziehungskraft bewahrt hat, wirkt diese in einem gestiegenen Maß auf Jünglinge und in einem geringer gewordenen Umfang auf Kinder. Daher ist die Quote der Spätberufungen gegenüber den Kinderberufungen gestiegen. In Frankreich machen die Spätberufungen bereits 15 Prozent aus, in Barcelona sind es sogar 25,8 Prozent.

Da jede soziale Schicht je für sich eigenartig strukturiert ist, muß der Versuch des Priesters, Berufungen zu wecken, schichtkonform sein. Der betont „bürgerlich“ wirkende oder der „schöngeistige“ Priester werden daher im Arbeitermilieu ebensowenig wirken wie der Typ des Arbeiterpriesters im Bürgermilieu.

In den Fragen der milieukonfofmen Seelsorge, als einer der Grundbedingungen für die Wek-kung von Berufungen, muß auch der Religionsunterricht an den Mittelschulen seinen Platz haben. Das bedeutet, daß gerade an den Mittelschulen die besten Kräfte einzusetzen sind, missionarisch gesinnte Priester (und nicht Priesterbeamte).

Einen breiten Raum in den Referaten der Tagung nahm die Frage ein, wie man den Mangel an Seelsorgern durch eine neue Disposition mit dem vorhandenen Klerus zum Teil beheben könne. Zwischen der Zahl an Priestern und der an Seelsorgern besteht ein Mißverhältnis. Eindringlich wurde daher eine Rückkehr des Priesters zu den eigentlichen liturgischen und pastoralen Aufgaben gefordert. Religionssoziologische Ermittlungen haben ergeben, daß die europäische Priesterfrage zu einem beachtlichen Teil durch eine Neuverteilung der vorhandenen priesterlichen Kräfte und auch durch eine Neugliederung der Pfarren gelöst werden könne — selbstverständlich nur beim gegebenen Stand.

Vielfach besteht weniger ein Mangel an Priestern als ein Zuviel an berufsfremden Engagements von Priestern und auch eine zu große Zahl an ländlichen Miniaturpfarren Auch in der Wiener Diözese besteht ein Mißverhältnis in der Zahl der Katholiken, die auf einen Seelsorger je Pfarre kommen. Bei 14 Pfarren mit mehr als 20.000 Seelen kommt ein Priester auf 5500 Katholiken, in 44 Pfarren zwischen 10.000 und 20.000 Seelen sind es 4000, in den Landpfarren nördlich der Donau aber nur 900.

Was die Seelsorgepriester betrifft, glaubt man sie entlasten und ihnen Aufgaben abnehmen zu müssen, die auch Laien übernehmen könnten. Das gilt für die Jugendstunden vor allem. Auch an eine Reform der Gottesdienstordnung in den Städten wurde gedacht. Ebenso erhofft man sich eine Verstärkung der seelsorglichen Wirkung durch eine organisatorische Teilung der Großstadtpfarren in Sektoren- und Ringpfarren. Bei den Sektorenpfarren bleiben die Priester im Pfarrhof wohnen, die Pfarre selbst aber wird in Sektoren aufgeteilt und jeder Sektor einem Seelsorger der Pfarre zur speziellen Betreuung übergeben, - Bei den Ringpfaweh^wird- dagegen in jedem einzelnen Sektor eine Gottesdie'nst-stätte errichtet. Auf diese Weise.wäre für Sirrin Seelsorger das Terrain seiner Seelsorge eher übersehbar als bisher.

Interessanterweise kam auf der Tagung auch die Forderung auf, die bisherige Fixierung der priesterlichen Vorbildung auf das Gymnasium als Vorstufe aufzugeben. Man soll auch andere Schultypen im Bewußtsein der Öffentlichkeit und vor allem der Mittelschüler als eine vollwertige Vorbereitung auf die großen Seminarien deklarieren. Gewisse Aufgaben, die bisher in der Vorbereitung auf das Theologiestudium allein vom Gymnasium wahrgenommen wurden, müßten unter Umständen von den theologischen Fakultäten übernommen werden, wie der Griechischunterricht.

Nicht minder wichtig als die Gewichtsverlagerung in der typischen Vorbildung ist die Reform einer Ausbildung der Erziehungsarbeit in den Seminarien, die nun zeit- und milieukonform erfolgen muß. Aus diesem Grund wurde erwogen, eine Reihe neuer Gegenstände in das Unterrichtsprogramm einzubauen, die Lehre von der Technik der priesterlichen Arbeit, die Gegenstände Soziologie, Pädagogik und Psychologie wie überhaupt alles, was zum „Handwerklichen“ der priesterlichen Berufsausübung gehört, die ja nicht nur die Praktizierung wissenschaftlicher Kenntnisse erfordert.

In einer Epoche, in der die Kirche darangeht, nicht allein alle Völker zu lehren, was sie immer getan hat, sondern sich bemüht, i n den Völkern durch einheimische Priester präsent zu sein, ist die Frage des Priesternachwuchses in Europa von elementarer Bedeutung. Ein erforderlich gewordener letzter großer Einsatz des christlichen Europas in der Welt macht es notwendig, daß Europa mehr denn je Priester den Missionen zur Verfügung stellt. Dazu kommt noch die nun unvermeidbar gewordene innere Mission in Europa, die Durchdringung eines Milieus, in das bisher der Priester noch nie Zugang zu finden vermochte, das Milieu der industriellen Arbeit.

Jeder Versuch der Reparatur einer gestörten Ordnung, einer Krise, setzt aber die Kenntnisse der Fakten voraus. Die Wiener Tagung bot Materialien in einem reichlichen Umfang. Es liegt nun an Priestern und Laien, die Konsequenzen zu ziehen und neue junge Mannschaften für den priesterlichen Beruf zu gewinnen.

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