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Digital In Arbeit

Mitdenken, mitreden

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Der Religionsunterricht sollte besonders praxisnah sein. Zeitungen können hilfreiches und anschauliches Material liefern.

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Der Religionsunterricht sollte besonders praxisnah sein. Zeitungen können hilfreiches und anschauliches Material liefern.

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Politik und ftircrie sind mir egal — ich kann ja sowieso nicht mitreden!" „Mich interessiert Politik nicht - meine Meinung interessiert ja auch niemanden!" Diese nicht ganz unbekannten Stimmungsbilder aus meinem Religionsunterricht an einer Wiener AHS zur Frage der Verantwortung von Christen im alltäglichen politischen Leben liegen mir als Theologin seit langem im Ohr und verlangen nach Antwort.

Knapper und prägnanter, als die Kinder selbst es aussprachen, läßt sich die Wurzel für jene politische Gleichgültigkeit, die nicht nur junge Menschen lähmt, kaum fassen: Wer sich von der Übermacht einer unzugänglichen Welt ausgeschlossen fühlt, zieht sein Interesse von ihr ab. Die „neue Unübersichtlichkeit" wirft so manchen Zeitgenossen in hoffnungslose Orientierungslosigkeit. Aggression nach innen und außen ist keine seltene Reaktion auf diese als Bedrohung empfundene Situation - nicht nur in Schulklassen. Flucht in die eigene kleine Lebenswelt oder Scheinwelten - Stichwort virtual reality - sind eine logische Folge dieser Erfahrung des Abgeschnittenseins von der Wirklichkeit, in die junge Menschen mit ihren Fähigkeiten und ihrer Neugier eigentlich hineinwachsen wollen. Sie drängen nach Mitspracherecht, wollen ihre Ideen zur Wirklichkeitsgestaltung ausprobieren - und sind bereit, viel zu lernen, wenn die Relevanz der Lerninhalte für das eigene Leben offensichtlich ist. Nicht nur Religi-onslehrer(innen) müssen sich der darin liegenden Anfrage an die Lebensnähe ihres Unterrichts stellen. Denn im Kern ist allen Lehrer(inne)n ein grundlegender Bildungsauftrag gemeinsam: die Talente und Kräfte der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu Werkzeugen werden zu lassen, mit denen sie sowohl ihr persönliches als auch das öffentliche Leben gemeinsam menschlich zu gestalten fähig werden.

Werte wie Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie verwirklichen sich aber nur in einer konkreten Welt - und die ist seit langem und in zunehmendem Maß eine der Medien und ihres Konsums. Mediale Kommunikationsstrukturen beanspruchen und besitzen wirklichkeitsschaffende Macht, beherrschen das öffentliche wie private Leben vieler Menschen - auch das unserer Kinder. Wer mitreden will, sollte Bescheid wissen. Wer urteilen und handeln will, muß sich Wissen aneignen, muß informiert sein und mit Information umgehen können.

Der brasilianische Professor für Geschichte und Bildungsphilosophie Paulo Freire überschreibt seine bewährten Alphabetisierungsprogramme so: „Das Lesen der Umwelt geht dem Lesen voraus." Das heißt, das Verständnis beispielsweise eines Zeitungsartikels setzt das Wissen um die Zusammenhänge von Wirklichkeit, Kontext und Text voraus. Die Auseinandersetzung mit journalistischen Darstellungsformen nicht nur im Deutschunterricht lehrt Schü-ler(inne)n Zeitungsartikel in diesem Sinn differenziert und aufmerksam zu lesen. Junge Menschen, die gelernt haben, einen Kommentar von einem Bericht zu unterscheiden, die dem gedruckten Wort in kritischer Distanz begegnen können und um die Wichtigkeit des Nachfragens, Weiterdenkens und -lesens wissen, sind nicht mehr ganz so leicht manipulierbare Spielbälle von Machtinteressen ökonomischer, politischer oder religiöser Natur. Die laufende Arbeit mit Zeitungen im Unterricht führt sie vielmehr in die medialen Gesetze ihrer Umwelt ein. Schüler(innen) lernen so schrittweise, daß sie mitreden können, wenn sie informiert sind.

„Unser Ziel sind mündige, im Mediengebrauch erfahrene Staatsbürgerinnen)." (ZiS-Folder) Mit dem morgendlichen Durchblättern der Tageszeitung beim Frühstückskaffee ist es also nicht getan. Wer mitreden und mitgestalten will, muß wissen, worum es geht ist. Kontinuierliche Arbeit mit Zeitungen bietet sich daher nicht nur als abwechslungsreiche und unterrichtsbelebende Methode an. Kritisches Zeitunglesen im Religionsunterricht erweist sich als ein sinnvoller Weg, Schüler(innen) auf jene konkrete Lebenswirklichkeit vorzubereiten, für die sie bald Verantwortung übernehmen werden. Die Wirklichkeiten des Lebens - in ihnen sind für Christen die „Zeichen der Zeit" zu lesen. In ihnen ist Gott verborgen und sprechend da. „Tu excitas, ut laudare te delectet..." (Augustinus, Confessiones 1,1,1: „Du selbst reizest an, daß Dich zu preisen Freude ist...") - warum nicht in diesem Sinn im Religionsunterricht Lust auf Zeitunglesen wecken?

Die Autorin ist

Religionslehrerin.

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