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„Nach Sonnenuntergang“

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Wer weiß schon, daß wir in Österreich sieben Abendgymnasien halben — gemessen an der Bevölkerungszahl mehr als in der deutschen Bundesrepublik —, daß ea also Berufstätigen möglich ist, die in jüngeren Jahren — aus welchen Gründen auch immer — versäumte oder abgebrochene höhere Schulbildung neben ihrer Berufstätigkeit nachzuholen? Die Anstalten befinden sich in Wien, Linz, Graz, Leoben, Salzburg, Innsbruck und Wiener Neustadt (letztere nur für Bundesheerangehörige mit dem Ziele der Offizierslaufbahn). Es handelt sich dabei nicht um eine Art Volkshochschulkurse (ein häufiges Mißverständnis Außenstehender), auch nicht um Maturaschulen, das heißt, Institute zur Vorbereitung auf die Externistenreifeprüfung beziehungs weise B-Matura, sondern um reguläre höhere Schulen (früher Mittelschulen, daher Arbeitermittelschulen, kurz AMS genannt) mit dem Ziele einer höheren Allgemeinbildung.

Das Eintrittsmindestalter beträgt 18 Jahre und ist nach oben hin unbegrenzt; Berufstätige (Arbeitsverhältnis) oder abgeschlossene Berufsausbildung ist Aufnahmeerfordernis. Die Studiendauer beträgt fünf Jahre, gegliedert in zehn Semester. Semesterbeginn ist regelmäßig Anfang September und Mitte Februar. Am Ende des Studiums steht die Reifeprüfung, und zwar im gymnasialen Zweig der Abendgymnasien (mit Latein) mit allgemeiner Hochschulreife, im realgymnasialen Zweig (ohne Latein, stärkere Betonung der mathematisch-naturwis-

senschaftlichen Fächer) mit Hochschulreife für den technisch-naturwissenschaftlichen, zum Teil auch den sozialwissenschaftlichen Bereich, Der Abendunterricht findet außer Samstag, Sonntag täglich Statt, an der Linzer Anstalt von 18.45 bis 22 Uhr, in Wien von 17.50 bis 21 Uhr, an den übrigen Anstalten schon ab 18.30 Uhr.

Aus Anlaß des 40jährigen Bestehens des Linzer Bundesstaatlichen Gymnasiums und Realgymnasiums für Berufstätige, der ältesten und größten derartigen Anstalt Österreichs (derzeit zirka 650 Schüler), fand vom 24. bis 27. September dieses Jahres in Linz eine Arbeitstagung statt unter dem Titel „Das Gymnasium für Berufstätige als soziale Aufgabe der modernen Bildungsgesellschaft“, deren Haupt gedanken und -ergebnisse samt einschlägigen Einsichten der dritte Schulbericht dieser Anstalt soeben veröffentlicht hat.

Wozu studieren diese Berufstätigen?

Einmal zum Aufstieg im gewählten Beruf, zweitens zum späteren Weiterstudium an einer Hochschule oder Universität, um als Spitzenkräfte der Wirtschaft und Gesellschaft zur Verfügung zu stehen, und schließlich zur persönlichen Bereicherung. Interessanterweise kommt es während des Studiums häufig zu einer Änderung in der Begründung der Studienaibsichten: die Leute werden sich erst durch das Studium ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten bewußt.

Der Gewinn für die Gesellschaft, solcherart qualifizierten Nachwuchs zu erhalten, ist unübersehbar. Insbesondere für die Wirtschaft wächst hier eine Begabtenreserve heran, deren eminente Bedeutung zuwenig bedacht wird. Handelt es sich doch um Menschen, die über eine Berufserfahrung von unten her verfügen, die obendrein dann noch durch die Qualitäten einer höheren Allgemeinbildung vermehrt wird. Diese gefragten Qualitäten sind: erhöhte Mobilität und Flexibilität, also jene Eigenschaften, die man von den Führungskräften braucht.

Ansätze ausbauen!

Zweitausend Studierende an den Gymnasien für Berufstätige gibt es derzeit in Österreich. Das sind nur zwei Prozent aller Schüler, die eina höhere Allgemeinbildung anstreben. Es heißt daher, diesen neuen Ansatz zur Erschließung unserer Begabten- reserven auszubauen. VoTi allen legi- stischen Maßnahmen müssen aber dabei das Wissen, um diąse.NTatvv.en- digkeit und die Bereitschaft, die daraus folgenden Konsequenzen zu tragen, im Bewußtsein der Öffentlichkeit heimisch werden.

Derzeit herrscht in manchen Betrieben den Arbeitermittelschülern gegenüber noch nicht jene Klima, das dem Neben- und Miteinander von Berufstätigkeit und Studium förderlich ist. Ja selbst ganze Gesellschaftsschichten stehen „wie eine Mauer“ jenen Kreisen gegenüber, die wir im Grunde genommen zu den Pionieren der Zukunft rechnen müssen. Jedes Beginnen stößt erfahrungsgemäß in seinen Frühstadien auf Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Vierzig Jahre Aribeitermittelschule müßten aber nun endlich hinreichen zur Legitimierung dieses Bildungsweges, hinreichen die Spitzenkräfte in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und anderen Bereichen, die aus ihm hervorgegangen sind und schon seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit tätig sein können.

Interessant und ungemein bezeichnend ist auch die geschichtliche Entwicklung von Selbstverständnis und öffentlicher Einschätzung der österreichischen Abendgymnasien: In ihrem Anfangsstadium, in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, galten sie als Institute des sozialen Ausgleichs, nach- holender sozialer Gerechtigkeit für bildungsmäßig traditionell benachteiligte Volksschichten, was etwa auch in ihrem damaligen Namen „Arbeitermittelschulen“ zum Ausdruck kam. Heute dominiert der Gesichtspunkt der Mobilisierung unserer Begabtenreserven.

Die Referenten der außerordentlich fruchtbaren und nötigen Linzer Arbeitstagung und die an ihr Vorträge anknüpfenden Diskussionen haben gezeigt, wie dringend ein Durchdenken des gesamten Komplexes erforderlich ist: der Abend- gyimnasien im speziellen und des gesamten zweiten Büldungsweges im allgemeinen. Schließlich muß die Strebsamkeit junger und älterer Leute nach gehobeneren Posten anerkannt werden und ihr Recht auf persönliche Lebenserfüllung, was ja immer auch dem Volksganzen zum Vorteil gereicht

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