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Neubau der österreichischen Schulen

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Ein vielerörtertes Thema empfängt in dem nachstehenden Aufsatz eine aufschlußreiche Beleuchtung; die weiteren Auseinandersetzungen über den wichtigen Gegenstand erhalten damit konkrete Unterlagen. „

Die Furche”

Bundesminister’ für Unterricht, Doktor Hurdes, hat eine radikale Schulerneuerung angekündigt, radikal in dem einen Sinne, daß sie auf das Ganze geht und sich nicht mit kleinen Aushilfen begnügt; radikal aber auch in des Wortes eigenster Bedeutung, nämlich auf die Wurzeln des Lebens zurückgehend, um von ihnen aus auf pädagogischem Wege die Daseinsfragen des heutigen Österreichs lösen zu helfen.

Man kann über unser Schulwesen sehr viel Lobendes sagen und es ist selbstverständlich, daß die Lehrerschaft immer bestrebt ist, ihr Bestes zu leisten. Trotzdem will der Ruf nach einer Schulreform nicht verstummen. Aus Kreisen der Elternschaft, aus kulturellen Gemeinschaften, aus der Wirtschaft und der Jugend hört man immer wieder Stimmen der Kritik, daß . die Grundeinstellung der heutigen Schule verfehlt sei. Die tieferen Gründe dieser oft nicht in Worte faßbaren unguten gefühlsmäßigen Urteile sucht man darin, daß die Schule in den letzten Jahrzehnten in steigendem Maße unter den Einflüß des in Europa immer stärker werdenden Zuges zum Intellektualismus gekommen sei; das Hinaufschrauben der Anforderungen der Lehrpläne, in Wien noch vermehrt durch die Forderung nach der Einheitsschule und die Angleichung der Hauptschule an die Mittelschule, die Überschätzung des angelernten Wissens und die Verfeinerung der Methoden der Wissensvermittlung haben zur Folge, daß die Jugend immer mehr zum „Schreibtisch” dränge und vor dem wirklichen Leben fliehe. Hier muß die innere Reform einsetzen, die bis an die Wurzel des Übels greift. Die Schule muß sich innerlich vollständig umstellen. Die bisherigen Versuche, die Erziehungsarbeit der Schule zu verstärken, blieben erfolglos, weil sie aus dem Geiste des Intellektualismus stammen. Die Schule muß den Schritt von der i n- tellektualistisch-didaktischen zur ehisch - sozialen Form der Erziehung machen, sie hat nicht nur dem Wissenserwerb des einzelnen zu dienen, sondern muß vor allem wieder bewußte Erziehungsarbeit leisten. Das Einfügen in die Gemeinschaft, die Arbeit in der Gruppe, die tätige gegenseitige Hilfe und die Betreuung des Schwächeren muß zur Gewohnheit werden, die über die Schulzeit in das Leben hinauswirkt.

Nach dem alten Wahrwort, daß wir nicht für die Schule, sondern für das Leben zu lernen haben, muß der Unterricht wieder in das Leben des Volkes organisch eingegliedert werden. Jeder junge Österreicher soll nicht nur eine möglichst hohe Allgemeinbildung empfangen, die ihm die Teilnahme am Kulturleben der Gegenwart ermöglicht und ihm Einblick in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Gemeinwesens gewährt, sondern er soll auch eine gediegene Berufsausbildung erhalten, die seine Existenz sichert. Es ist heute eine allgemein erhobene Forderung, daß jeder Jugendliche zu verpflichten ist, nach Beendigung seiner Allgemeinbildung in der Volksschule, Hauptschule oder Mittelschule eine seinen Fähigkeiten entsprechende Berufsausbildung mitzumachen und ihren erfolgreichen Abschluß nachzuweisen. Aus diesem Grunde soll die Unterrichtspflicht bis zur Beendigung der Berufsausbildung, längstens bis zur Erreichung des 18. Lebensjahres ausgedehnt werden.

Vor 1938 war die Schulverwaltung auf drei Ministerien verteilt. Das Unterrichtsministerium hatte im wesentlichen die allgemeinbildenden Schulen und von den höheren Berufsschulen die Lehrerbildungsanstalten und die kaufmännischen Schulen zu betreuen, die gewerbliche Berufsbildung lag durch drei Jahrzehnte in den Händen des Handelsministeriums, die landwirtschaftlichen Schu’en gehörten in den Wirkungsbereich des Landwirtschaftsministeriums.

Diese Zerreißung wirkte sich nicht nur in der äußeren Entwicklung der verschiedenen Schulgattungen aus. Die Allgemeinbildung wurde durch die Isolierung des größten Teiles der Berufsbildung in einen einseitigen Intellektualismus getrieben, die Blickrichtung wendete sich immer starrer auf die Mittelschule und den Aufstieg zum Hochschulstudium und führte schließlich dazu, daß die Lehrpläne der Untermittelschule auch auf die Hauptschulen ausgedehnt wurden, wodurch der Zug zum „Schreibtisch” neue Stärkung fand. Die Wiedervereinigung von Allgemeinbildung und Berufsschulung in der Hand des Bundesministeriums für Unterricht, die 1945 durchgeführt wurde, muß auch die richtige Ieb-nsnahe Einstellung des gesamten Bildungsganges vom Kindergarten bis zum Abschluß der Berufsausbildung nach sich ziehen, die vom Schreibtisch weg wieder ins volle Menschenleben mit seiner unendlichen Fülle von praktischer Arbeit hineinführt.

Durch die Ausdehnung der Unterrichts, pflicht bis zum 18, Lebensjahr, beziehungsweise bis zur Beendigung der Berufsausbildung erhöht sich die Zahl der Schüler, die von der Schulverwaltung zu betreuen sein wird, schätzungsweise um 150.000. Die Gesamtzahl der Schulkinder vom 6. bis zum 14. Lebensjahr betrug noch im Schuljahr 1932/33 900.000, sank in den folgenden Jahren auf 850.000 im Schuljahr 1936/37 und ist jetzt bereits auf 750.000 gefallen. Im Schuljahr 1936/37 (aus dem die letzte ausführliche Statistik vorliegt) besuchten rund 500.0 Schüler eine niedrig organisierte Landvolksschule, rund 300.000 eine voll- organisierte Volks, und Hauptschule, 34.000 eine Untermittelschule, 6000 eine Sonderschule, 500 erhielten häuslichen Unterricht und 4500 blieben ohne Unterricht.

In der Altersstufe vom 14. bis zum 18. Lebensjahr ergibt sich folgendes Bild: etwa 20.0 gehen in die Oberstufe der Mittelschule, 10.000 in eine höhere technische oder gewerbliche Lehranstalt, 4300 in eine Lehrerbildungsanstalt, 2700 in eine Handelsakademie und rund 500 in eine höhere landwirtschaftliche Schule. Hiezu kommen noch die Schüler der Berufsschulen und die Lehrlinge, die an einem Tag in der Woche in die Berufsschule gehen. Im Schuljahr 1946/47 waren es 96.000, im Schuljahr 1947/48 105.000, dazu kommen rund 15.000 Schüler der landwirtschaftlichen Fach- und Fortbildungsschulen. Auf der Altersstufe vom 14. bis zum 18. Lebensjahr streben also rund 40.0 Schüler nach einer höheren mehrjährigen Ausbildung und rund 120.000 suchen in Fachschulen oder Berufsschulen eine einfache praktische Ausbildung zu erhalten. Wenn die Unterrichtspflicht für diese Jahrgänge durchgeführt wird, steigt die Zahl der Berufsschüler auf mehr als das Doppelte. Es wird notwendig sein, die entsprechenden Schulgebäude bereitzustellen und für die Ausbildung der erforderlichen Lehrerschaft vorzusorgen.

Auf der Altersstufe über das 18. Lebensjahr hinaus folgt die höchste fachliche Ausbildung, das Hochschulstudium. Die Hörerzahl schwankte in der Zeit vor 1938 zwischen 25.0 und 16.000, derzeit hat sie sich infolge der Stauung in der Kriegszeit auf etwa 30.000 erhöht.

Der Bildungsgang eines Geburtenjahrganges entwickelt sich folgendermaßen: vom 6. bis 14. Lebensjahr erhalten rund 60 Prozent ihre Allgemeinbildung in einer niedrig organisierten Landvolksschule, etwa 33 Prozent in einer vollorganisierten Volks- und Hauptschule und 7 Prozent in der Untermittelschule. Im Alter von 14 bis 18 Jahren besuchen etwa 5 Prozent die Oberstufe der Mittelschule, etwa 5 Prozent eine berufsbildende Mittelschule und vielleicht 40 Prozent eine niedere Berufsschule oder Berufsfachschule. Hier klafft die große Bildungslücke der österreichischen Jugend: mindestens 50 Prozent erhalten über das 14. Lebensjahr hinaus keine ordnungsmäßige Berufsausbildung. Wenn wir diese Zahlen nach Stadt und Land, männliche und weibliche Schüler zerlegen, so verschieben sie sich zugunsten der Stadt und der männlichen Jugend, während das Land und die weibliche Jugend noch stärker zurücktreten. Österreich kann seine Zukunft im friedlichen Wettstreit der Nationen nur durch eine erhöhte Leistung behaupten und muß daher alles daransetzen, daß sich jeder Jugendliche eine tüchtige Fachausbildung erwerben kann.

So gesehen, ist die Schulemeuerung nicht bloß Sache einiger Schulmeister, sondern eine volkswirtschaftliche und soziale Forderung von größter Tragweite. Die Ausbildung zu höchster Leistungsfähigkeit ist eine Pflicht des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, die jeder zu erfüllen hat. Das gilt nicht bloß für die niederen Formen der Berufsausbildung, sondern auch für die Mittelschule und Hochschule, aus denen heute ein sehr beträchtlicher Teil der Studenten ohne Erfolg ausscheidet.

Eine radikale Schulerneuerung, die bis auf die Wurzeln des Lebens zurückgeht, muß nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen folgende Forderung erfüllen:

Befreiung des gesamten Schulwesens von der Einstellung auf den Schreibtischberuf, Abkehr von der Überschätzung des angelernten Wissens und Wendung zur ethisch-sozi- alen Form der Erziehung.

Sicherung der pflichtgemäßen Berufsausbildung jeder Art und Höhe von der Berufs.

schule bis zur Hochschule nach den Fähigkeiten des einzelnen und in Übereinstimmung mit den sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Innere Ausgestaltung und äußere Förderung der Landvolksschule.

Wiederherstellung und innere Erneuerung der Hauptschule.

Schulbahnberatung vor dem Eintritt in die Mittelschule.

Berufsberatung und Eignungsprüfung nach Vollendung der Schulpflicht, auch für den Eintritt in die Obermittelschule oder in eine höhere Fachlehranstalt.

Innere Neugestaltung der höheren Allgemeinbildung an den Mittelschulen und den höheren Fachlehranstalten.

Einbeziehung der Vorsorge für den Nachwuchs der akademischen Berufe und der mittleren Beamtenschaft in den Gesamtausbildungsplan.

Innerhalb des gesamten Planes Sondervorsorgen für die männliche und für die weibliche Jugend nach den tatsächlichen Bedürfnissen des Lebens.

Jeder dieser Punkte enthält eine Fülle von Einzelaufgaben, die einer Lösung zugeführt werden müssen. Aber wenn die Reform einen Sinn haben soll, muß sie auf das Ganze gehen und darf sich nicht mit kleinen Aushilfen begnügen.

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