6788031-1970_22_04.jpg
Digital In Arbeit

Nicht ideologisch keimfrei“

Werbung
Werbung
Werbung

Es scheint, daß mit dem Wechsel der politischen Landschaft in Deutschland und Österreich auch das in den letzten Jahren so gängige Schlagwort von der Entideologisierung des politischen Lebens ganz in der Versenkung verschwindet. Wenn man den Worten Präsident Maletas beim „Jubiläumsparteirat“ glauben darf, besinnt sich die ÖVP ihrer Grundsätze und Grundlagen. Die deutsche Sozialdemokratie hingegen ist in Saarbrücken vom Bild der liberalen Volkspartei Godesberger Prägung abgerückt — und das offensichtlich nicht nur auf Drängen der „Jungsozialisten“ oder eines linken Flügels.

Es wird eben offenbar, daß es auf die Dauer nicht möglich ist, ideologisch keimfreie Politik zu machen. Zur wissenschaftlichen Analyse, zur rein sachlichen Tatsachenfeststellung und zuni technokratischen Sandkastenspiel gehört die Wertung des Politikers. Erst beide zusammen gestalten die Entwicklung. Man kann nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß alles menschliche Handeln von Wertvorstellungen, von Zielen ausgeht, in den großen politischen Strömungen vor allem vom Menschenbild. Die Gretchenfrage für den Politiker ist: Anerkennst Du den Menschen als freie Persönlichkeit in einer freien Gemeinschaft oder ist das Kollektiv Maßstab Deiner Entscheidung?

Nirgends tritt das Menschenbild als Leitlinie der Politik so klar zutage wie in der Sozialpolitik. Einmal, weil sie sich mit dem Menschen direkt beschäftigt, zum anderen, weil nahezu jeder Staatsbürger in einer Notsituation direkten Kontakt mit ihr erhält und drittens, weil hier Freiheit gegen Freiheit steht.

Große Probleme wachsen in Österreich heran: in der Gesundheitspolitik, in der Gestaltung der menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz, in der Familien- und der Altenpolitik, in der Gestaltung der Umwelt. In der Gesundheitspolitik drängen Fragen der ärztlichen Betreuung — insbesondere der Landbevölkerung — und die Spitalsmisere auf eine rasche Lösung. Man kann das Heil in einem staatlichen Gesundheitsdienst und in möglichst vielen Einheitskrankenhäusern suchen — wenn auch angesichts des englischen Beispiels dazu einiger Mut gehört. Man kann aber auch durch eine entsprechende Honorargestaltung der Sozialversicherungsträger und verschiedene flankierende Maßnahmen die ärztliche Versorgung der Bevölkerung zu verbessern trachten und die Krankenhäuser funktionell den medizinischen Erfordernissen, ausstattungsmäßig den tatsächlichen Wünschen und Ansprüchen der „Konsumenten“ anpassen. Das eine entspricht einem kollektivistischen, das andere einem personalen Menschenbild.

Initiativen auf diesem Gebiet sollten für die große Oppositionspartei Früchte tragen. Ein Krankenhaus-plan liegt vor, die deklarierten Meinungen aller Beteiligten weichen nicht viel voneinander ab. Eine Einigung sollte erzielt werden, dem rascher Reagierenden ein leichter Erfolg möglich sein. Im Augenblick ist die Diskussion — von gelegentlichen Äußerungen des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger abgesehen — verstummt und das Gegenteil von dem, was rundum als richtig erkannt wurde, geschieht. Hohe Summen werden investiert und man wird das Gefühl nicht los, daß möglichst viele vollendete Tatsachen geschaffen werden sollen, ehe der Versuch einer Koordination unternommen wird, der lokale Wünsche und Vorstellungen nicht voll erfüllen kann.

Dabei wäre sogar noch eine Vorfrage zu klären: ob nämlich die „Spitals-misere“ tatsächlich einer zu geringen Bettenzahl oder nicht vielleicht einem Organisationsmangel in den Krankenhäusern oder einer zu geringen Effizienz der ambulanten ärztlichen Betreuung entspringt. Zwecks Gestaltung der menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz rufen alle nach Mitbestimmung. Man kann darunter einen vermehrten Einfluß von Gewerkschafts- und Arbeiterkammerfunktionären verstehen, man kann dabei auch an die Gestaltung eines echten partnerschaftlichen Mitarbeiterverhältnisses in den Betrieben denken. Das erste führt in letzter Konsequenz zur kalten Sozialisierung, das andere macht aus dem Joch der Arbeit eine personale Aufgabe deren Erfüllung echte Bereicherung der menschlichen Substanz bringt. Die Volkspartei, die — wie die letzten Handelskammerwahlen erneut bewiesen — die überwiegende Mehrheit der Gewerbetreibenden und Unternehmer vertritt, muß die Zeichen der Zeit zu deuten wissen und sie politisch auswerten können. Sie darf nicht warten, bis sie auf die Vorschläge der anderen „reagieren“ muß, sie muß „agieren“ und damit die Entwicklung in ihrem Sinne lenken.

Weitere Probleme seien nur kurz erwähnt: das noch immer ungeklärte (warum eigentlich, die Diskussion war schon weit fortgeschritten?) Schicksal der Ruhensbestimmungen im Pensionsrecht — von nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Brisanz —, die Umweltsgestaltung, besonders der Luft-, Lärm- und Gewässerschutz, die Kodifikation des Arbeitsrechtes — ein gesellschaftspolitisches Instrument ersten Ranges. Sozialpolitik ist Gesellschaftspolitik, sie dient der Verwirklichung politischer Leitlinien. Was von der Regierungsseite kommen wird, läßt sich annähernd abschätzen. Was die große Oppositionspartei dazu zu sagen, was sie selbst vorzubringen hat, wird für die Gestaltung der politischen Landschaft jetzt und nach den nächsten Wahlen von entscheidender Bedeutung sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung