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Niemand muß alles akzeptieren

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Würden nicht nur Menschen, sondern auch Wörter um ihrer Karriere willen beneidet -Toleranz läge da sicher im Spitzenfeld. Die UNIDO hat 1995 zum „Jahr der Toleranz” proklamiert, und in den letzten Jahrzehnten hatte der Begriff selten eine solche Konjunktur wie heuer.

Die Verwendungsweisen dieses Wortes sind allerdings recht unterschiedlich: Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer hat zur „Kruzifix-Debatte” mit der Aussage beigetragen, das Kreuz an der Schulwand sei „ein Zeichen der Toleranz”; Politiker verschiedener Couleur fordern „Toleranz gegenüber Ausländern”.

Homosexuellen-Initiativen verlangen Gleichberechtigung anstelle bloßer Toleranz und fordern für ihre Lebensgemeinschaften den Status der Ehe. „Tolerantes Ehepaar sucht ebensolches” ist nicht nur in obskuren Zeitungen ein gängiger Anzeigentext geworden. In Frankreich diskutiert man, ob das Verlangen islamischer Eltern, ihre Tochter beschneiden zu lassen, „toleriert” werden soll, obschon ein solches Tun ansonsten die Straftat der vorsätzlichen Körperverletzung wäre. Pädagogen propagieren „Toleranz als Erziehungsziel”, Soziologen bewerten die „Toleranz” gegenüber Schwarzfahrern, Steuerhinterziehern und Drogenkonsumenten als bedenkliches Zeichen des Werteverfalls.

Gibt es für alle diese Phänomene einen gemeinsamen Nenner? Und ist Toleranz wirklich so entscheidend für das Zusammenleben von Menschen und für die Demokratie, wie es den Anschein hat?

Bei modischen Ausdrücken lohnt es sich zuweilen, sich an den ursprünglichen Sinn zu erinnern. „Tolerantia”, das lateinische Wort, heißt „Duldung”. Als das Wort zu einem moralischen Wertbegriff wurde, nannte man 1 oleranz die Bereitschaft, etwas hinzunehmen und zu ertragen, was man eigentlich ablehnt - also zum Beispiel das religiöse Bekenntnis und den Gottesdienst Andersgläubiger.

Das war natürlich auch ein politisches Problem, denn man war in früheren Zeiten überzeugt davon, daß nur unter der Bedingung gleicher Glaubensüberzeugung ein friedliches Zusammenleben der Menschen möglich wäre.

Aber ursprünglich war „Toleranz” sozusagen ein ungeschuldetes, geradezu barmherziges Entgegenkom-

Was ist Toleranz?

Jeder fordert sie. Jeder will sie. Aber wie sie praktiziert wird, darüber gehen die Ansichten auseinander. men der Herrschenden oder der Mehrheit. In der Regel wurde Toleranz von der Obrigkeit einer Minderheit „gewährt”.

Dann aber setzte sich ein ganz anderer Gedanke durch: die Idee der na-tur- oder gottgegebenen Menschenrechte, zu denen man auch und besonders das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit rechnete. Sie begründen einen Anspruch. Wo dieser Anspruch anerkannt wird, ist bloße Toleranz, also Duldung, überholt.

Es hat lange gedauert, bis sich diese neue Idee des Umgangs mit andersgläubigen oder fremden, andersartigen Menschen durchgesetzt hat. Heute gelten die Menschenrechte und Grundfreiheiten als Grundlage der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, wenigstens in unserem Kulturkreis. (In anderen Zivilisationen, etwa in muslimischen, ist das bekanntlich anders ...)

Ist damit „Toleranz” eigentlich schon überholt, eine Parole von gestern und kaum mehr der Rede wert? Das wäre ein Trugschluß. Wenn bestimmte Rechtsideen in Verfassungen und Verträge gegossen werden, bedeutet das ja noch lange nicht, daß die Menschen sich diese Ideen existentiell zu eigen machen.

Das lehrt schon die Geschichte: Die Botschaft von der Würde eines jeden Menschen hat es nicht vermocht, Entwürdigung aus der Welt zu schaffen. Und andere Auffassungen von Menschen zu achten, um ihrer Menschenwürde willen, das fällt jedem von uns doch auch immer wieder schwer. Wenn man Toleranz unter Bezugnahme darauf versteht, dann ist sie immer noch brandaktuell, ein moralisches Gebot von hohem Rang.

Wer Toleranz beschwört, sollte allerdings fein säuberlich unterscheiden. Tolerant sein heißt nicht Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem an den Tag zu legen. Die christliche Tradition überliefert da übrigens einige bedenkenswerte Aussagen: Augustinus sieht bekanntlich die ganze Weltgeschichte als einen einzigen Kampf zwischen guten und bösen Kräften. Er verlangt den vollen Einsatz für das Gute und gegen das Böse, Und dennoch lobt er die „tolerantia” als eine Haltung, die von der Liebe geprägt ist, und so den Mitchristen in seiner Andersheit erträgt. („Liebe toleriert alles”, heißKes schon bei Paulus...)

Toleranz ist also deshalb eine unerläßliche Tugend, weil wir als Menschen unvollkommen und fehlerhaft sind. Wir müssen großzügig sein, aber ohne daß wir deswegen unsere eigenen Überzeugungen und Verhaltensweisen aufgeben. D^ese lugend ist in dieser altchristlichen Sicht also nicht erst zwischen Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen nötig, sondern auch zwischen Gleichgesinnten. Sie muß, und daraufkommt es an, gelernt und geübt werden.

Wir sind Menschen. Wir denken verschieden und fühlen verschieden. Trotzdem sollten wir nicht nur so recht und schlecht, sondern gut miteinander auskommen. Deshalb ist Toleranz nicht nur ein Thema der Gesellschaftspolitik. Es ist auch ein Thema, dem man sich widmen muß, wenn man sich mit den Problemen der modernen Familie befaßt. Denn gerade die Mitglieder einer Familie gestalten ihre Beziehungen nicht mit Blick auf irgendwelche Menschenrechtskataloge, sondern tagtäglich im direkten Zusammenleben. Die unterschiedlichen Gefühle, Wil-lensreg\mgen und Wünsche schaffen dabei eine Menge Probleme.

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