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Notruf der Mittelschulen

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Die Kundgebung vom 26. März vorigen Jahres hat den Blick der Oeffentlichkeit für die Angelegenheiten der Kultur in Oesterreich geschärft. Als Folge des Marsches über die Ringstraße hat der Nationalrat 150 Millionen für das Kulturbudget zugeschossen. Für die Mittelschulen — und das verdient herausgestrichen zu werden — ist von der Summe nur ein Zehntel übriggeblieben.

Die Schülerzahl in den Bundesmittelschulen wächst. In Wien beispielsweise gingen 193 8 von den vierten Volksschulklassen 18 Prozent in die Mittelschule, heuer sind es mehr als 26 Prozent. Man muß übrigens die Beobachtung machen, daß der Geburtenrückgang der letzten Jahre in den Bundesländern wieder einem Anstieg Platz gemacht hat und daß daher die Raumkrise eine bleibende Erscheinung sein wird, wenn nicht durchgreifende Maßnahmen — wie sie Bundesminister für Unterricht Doktor Drimmel vorschlug (Mehrjahresplan für Bauten) — unverzüglich von den gesetzesgebenden Körperschaften beraten werden. Der erhöhten Frequenz steht keine Zunahme, sondern Abnahme der Räumlichkeiten gegenüber. In Gebäuden, die für zwölf Klassen mit 300 Schülern voreinstens gebaut worden sind, hat man heute 45 bis 49 Klassen mit 1400 bis 1700 Schülern. Es gibt Zimmer mit 15 Quadratmeter Fläche, die Klassenzimmer abgeben müssen. In Baden bei Wien hat man den Orgelchor einer Anstaltskapelle als Schulzimmer „adaptiert“. Die Erste Republik hat 1 An-taltsgebäude (Linz), die Zweite 2 (Eisen-gtadt, St. Pölten) errichtet. Das ist alles. Das Mindesterfordernis umfaßt insgesamt 70 Bauvorhaben (Wien braucht sieben neue Gebäude) mit einem Kostenaufwand von einer halben Milliarde. Es darf aber nicht übersehen werden, daß es Gebiete in Oesterreich gibt, die für Mittelschulen unaufgeschlossen sind (Ennstal; südliche Steiermark) und daß die besseren Verkehrsverhältnisse es heute mehr als früher Schülern erlauben, mit der Bahn anzureisen — ganz abgesehen von der Bildung der Industriezentren (Linz) und der Vergrößerung solcher Gebiete (der Raum Bruck-Leoben-Donawitz). Es ist ein schönes Zeichen des Bildungsbedürfnisses unserer Bevölkerung, wenn sie in erhöhteri Maße ihre Kinder in die Mittelschulen schickt, es ist ein Vertrauensvorschuß, den man auf keinen Fall verschleudern darf. • Wie sieht es gegenüber diesem Vertrauen aus? In Wien waren in den letzten fünf Jahren rund 10.000 Schüler mehr zu unterrichten. Ein Sitzplatz (Tisch, Sessel) kostet 300 S. Vom Sachaufwand wären daher drei Millionen zu fordern. Für alle Bundesmittelschulen Oester-, reichs aber hat der Sachaufwand „Einrichtungsgegenstände“ für 1954 rund dreieinhalb Millionen zur Verfügung! Oder: das Lehrfach Physik ist für alle 51 Wiener Anstalten mit 102.000 S beteilt; bei den Kosten einer Schalttafel für Dreh- und Wechselstrom mit 12.000 Schilling müßte eine Anstalt sechs Jahre mit der Anschaffung warten. Inzwischen haben ein paar Jahrgänge maturiert und können sich die Schalttafel als ,,reiferklärt“ und als Gast anschauen. Eine Wiener Mittelschule mit 650 Schülern und 42 Professoren verfügt über einen ordentlichen Sachaufwand von monatlich 660 S (ein Schilling je Schüler); kein Wunder, daß „für Bibliothekserfordernisse“ ganze 50 S „ausgeworfen“ werden. Die Fenster können nur einmal im Jahre geputzt werden, was zur Behauptung geführt hat, daß man die Bundesmittelschulen schon von weither an den schmutzigen Fensterscheiben erkennen kann. („Haltet die Schule sauber“, wird den Schülern gepredigt.) Der Bundessachaufwand müßte mindestens auf 65 Millionen — verteilt für vier Jahre — erhöht werden, um nur das Aller-nötigste zu veranlassen.

Die Enquete der „Arbeitsgemeinschaft für Kunst und Wissenschaft“ im Alten Rathause,der Bundesminister für Unterricht, Doktor D r i m m e 1, und der Präsident des Wiener Stadtschulrates, Dr. Z e c h n e r, führende Fachleute des Unterrichtswesens und Vertreter der politischen Körperschaften beiwohnten, forderte auch materielle Besserstellung der Mittelschullehrerschaft; darunter befindet sich auch das Kapitel „Bildungszulage“, das von der „Oesterreichischen Furche“ früher schon einmal (hinsichtlich der Pflichtschulen) angeschnitten worden war. Hundert Schilling im Monat (die zu belegen sind, also keine „Gehalterhöhung“ darstellen) sind bei den Preisen der Fachliteratur unzulänglich (Hochschulassistenten sind Mittelschulprofessoren diesbezüglich gleichgestellt). Außerdem bleiben einige Gruppen (-2-Lehrer; II-L-Lehrer, Landes- und Fachschulinspektoren sowie alle den Schulbehörden zugeteilten Lehrkräfte) von der Fortbildungszulage ausgeschlossen.

Eines steht fest: wenn es nicht jetzt, in der Wirtschaftskonjunktur gelingt, den Mittelschulen das zu geben, was sie zum Atmen brauchen, werden sie es nie bekommen.

Oesterreich wird dann ein Kulturmuseum sein. Nicht mehr.

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