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Österreich und die Grundrecht

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Nur selten unterstreicht ein zufällig knapp vorhergegangenes Ereignis die Bedeutung einer wissenschaftlichen Tagung für jeden Staatsbürger. Auf die Tagung der Internationalen Juristenkommission in Weißenbach am Attersee vom 4. bis 6. Mai 1964 trifft dieser Glücksfall zu.

Das Thema, das sich die österreichische Sektion dieser Vereinigung für ihre zweite Arbeitstagung gesetzt hatte, lautete: „Die Grund-und Menschenrechte als Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit.“ Nur zwei Monate vorher hatte die österreichische Volksvertretung allen Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Verfassungsrang verliehen. Die Vorträge und Diskussionen über das schon viel früher festgelegte Tagungsthema waren nun die erste repräsentative Gelegenheit für die österreichischen Juristen, die durch die neue Rechtslage aufgeworfenen Fragen in ihren Auswirkungen für die den Schutzverheißungen und den Zwangsandrohungen der österreichischen Gesetze unterstehenden Personen — das sind wir alle — gemeinschaftlich zu durchdenken, im Streitgespräch gegeneinander abzuwägen, die Vielfalt und die Probleme der neuen Rechtswirklichkeit vor aller Öffentlichkeit aufzuzeigen.

Durch den, nach der Wahl des Tagungsthemas erfolgten Schritt des Nationalrats in Richtung auf einen erhöhten Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten erhielt die Aussprache der Internationalen Juristenkornmission in Weißenbach allerdings nur zusätzliches Gewicht. Die Beziehungen zwischen der Rechtsstaatlichkeit und den menschlichen Grundrechten sind nämlich ein Hauptanliegen der Kommission seit der Gründung im Jahre 1952. Bewußt weist dabei die Kommission immer wieder auf die gegenseitige Bedingtheit eines Zu-standes der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung vor den menschlichen Grundrechten hin. Wer für die Rechtsstaatlichkeit, die Herrschaft des Rechts, the rule of law, eintritt, so betonen übereinstimmend die Weltkongresse der Internationalen Juristenkommission von Athen, Neu-Delhi, Lagos und Rio de Janeiro, bekennt sich zur Unterworfenheit aller staatlichen Gewalt unter das Recht.

Das ist ein großer Gedanke, der uns Österreichern vertraut ist. Unser Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch bestimmte schon 1811 — man beachte die Jahreszahl — im 16: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht sind in diesen Ländern nicht gestattet.“ Und bereits das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, Reichsgesetzblatt 142, erklärte alle Staatsbürger als gleich vor dem Gesetz und garantierte die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit des Hausrechts und des Eigentums, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Lehr- und Lernfreiheit, dieVer-sammlungs- und Vereinsfreiheit. Der Verfassungsgesetzgeber 1920 übernahm die Regelung der Monarchie mangels Einigung über einen anderen Grundrechtskatalog im Artikel 149 Bundesverfassungsgesetz in die Rechtsordnung der demokratischen Republik.

Für die Rechtsunterworfenheit aller staatlichen Gewalt entschied sich nicht nur der österreichische Gesetzgeber. Auch die österreichische Rechtswissenschaft leistete zu dieser Frage wertvolle Beiträge. Hier ist der Ort, um auf die bahnbrechenden Bemühungen des Schöpfers der Reinen Rechtslehre, Hans Kelsen, die Identität von Recht und Staat herauszuarbeiten, hinzuweisen. Alfred Verdroß folgte diesem Ansatzpunkt in einer Untersuchung mit dem Titel: „Zum Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers“ (1916). Adolf Merkl entwickelte kurze Zeit darauf seine Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, durch die alles Staatshandeln als Rechtsvollzug aufgedeckt wird. Walter Antonioiii, der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, Alois Meli-char und Günther Winkler bauen in ihren verwaltungsrechtlichen Arbeiten auf diese Einsichten auf. Hans Klecatsky und, ihn unterstützend, Alfred Kobzina untersuchten die Legalität der staatlichen Privatwirtschaftsverwaltung und erkannten deren verfassungsbedenkliche Gestalt. Robert Walter prüfte die einfachgesetzlichen Regelungen der Gerichtsbarkeit aus der Sicht des übergeordneten Verfassungsrechtes. Felix Ermacora schulden wir Dank für eine tiefschürfende Kommentierung der österreichischen Grundrechtsbestimmungen. Karl SchambecJc verweist auf die der Rechtsordnung vorgegebene Struktur der Dinge, an die der Gesetzgeber 'als an die Natur der Sache anzuknüpfen genötigt sei. Rene Marcic schließlich fragt in seinem jüngst erschienenen Werk über die Verfassungsgerichtsbarkeit, ob nicht vor dem Gesetz, vor der Verfassung, noch ein weiterer Rechtsbereich liege, nämlich das Naturrecht, das Seinsrecht, dessen Existenz die Gesetzgebungstätigkeit aus einer freischöpferischen Handlungsweise zum inhaltsgebundenen Rechtsvollzug werden lasse.

Diese Frage nach dem letzten Geltungsgrund der Rechtsordnung belastet das Gewissen jedes Juristen. In diesem Bereich liegt auch die große Aufgabe der Internationalen Juristenkommission, ein weltweites unabhängiges Forum zur Rüge von Verstößen gegen die Herrschaft des Rechts zu sein und immer wieder auf die — außerhalb des staatlichen Beliebens liegenden — Grundlagen des Rechts hinzuweisen. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß der Richter, das Verwaltungsorgan, in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, an das Gesetz gebunden ist und der Rechtsmittelzug in weitem Maße die Gesetzmäßigkeit der gerichtlichen Entscheidungen und der Verwaltungstätigkeit sicherstellt. Letzlich hat es also zu heißen: Wer schützt vor dem unrecht des Gesetzgebers? Wer schützt den einzelnen vor der Gewalt von Menschen, die sich zur Legitimierung ihrer Handlungsweise auf offenbare Unrechtsakte eines Gesetzgebers berufen?

Der Schutz vor der ungerecht handelnden Staatsgewalt ist heute als Weltproblem erkannt. Nicht von ungefähr fühlten sich daher die Vereinten Nationen gedrängt, einen Beitrag zur Sicherung der menschlichen Grundfreiheiten zu leisten. Am 10. Dezember 1948 beschloß die Generalversammlung die aus dreißig Artikeln bestehende „Universal Declaration of human rights“. Sie spricht unter Hinweis auf die Würde und den Wert der menschlichen Person von gleichen und unveränderten Rechten aller Mitglieder der menschlichen Familie.

„Entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politische Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen, die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie gewisser in der Allgemeinen Erklärung (der Vereinten Nationen) verkündeter Rechte zu unternehmen“, vereinbarten die Mitgliedsstaaten des Europarates am 4. November 1950 in Rom die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Österreich trat dieser Konvention am 13. Dezember 1957 in Paris bei. Sie erhielt die verfassungsmäßige Genehmigung des Nationalrats und wurde unter Nummer 210 im Jahrgang 1958 des Bundesgesetzblattes für die Republik Österreich kundgemacht. Obwohl der Inhalt der Konvention die Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung abändert, wurde es unterlassen, diesen Umstand ausdrücklich im Genehmigungsschluß anzuführen, auf welchen Verstoß zuerst Günther Winkler aufmerksam gemacht hat. Mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 4. März 1964, kundgemaoht in Nummer 59 des Bundesgesetzblattes für das laufende Jahr, wurde dieser Fehler gutgemacht. Damit ist eindeutig klargestellt, daß die Konvention entgegenstehende ältere Bestimmungen der österreichischen Rechtsordnung einschließlich der Bundesverfassung derogiert. Umstritten bleibt bloß, ob es zur Durchführung der Menschenrechtskonvention noch besonderer Ausführungsgesetze bedarf oder ob die in der Konvention enthaltenen Anordnungen bereits eine ausreichend bestimmte Grundlage für die innerstaatliche Vollziehung darstellen.

Die Konvention und der ihr nachträglich zuerkannte Verfassungsrang haben die Rechtslage auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes in Österreich zweifelsohne einsehneidend geändert. Der Katalog der Grundrechte wurde ergänzt, so durch das Verbot rückwirkender Gesetze, den jedermann zuerkannten Anspruch auf Achtung von dessen Privat- und Familienleben, weiter durch die Einräumung von Grundrechten auf Eheschließung, Familiengründung und auf Bildung, sowie des Elternrechts auf Erziehung und Unterricht der Kinder entsprechend den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern. Teilweise regelt die Konvention selbst die nähere Handhabung der Grundrechte. Die entscheidende Neuerung ist der Verzicht Österreichs auf einen Teil seiner Souveränität bei Ausübung seiner Höchstgerichtsbarkeit. Die Konvention bestimmt nämlich, daß sich jede natürliche Person, nicht staatliche Organisation oder Personenvereinigung, nach Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs an die Europäische Kommission für Menschenrechte wenden kann, um die Einhaltung der von den Vertragsstaaten übernommenen Verpflichtungen sicherzustellen.

Angesichts der knapp vor ihrem Zusammentritt in Weißenbach stattgefundenen Rangerhöhung des Grundrechtsschutzes in Österreich kennt doch die Juristenkommission — bei aller Anerkennung der für viele Teile der Welt vorbildlichen Lage in Österreich — das Ungenü-gen aller gesetzlichen Regelung. Ebenso wie die Würde des Menschen dem Recht vorgegeben ist, muß auch die Achtung der Menschenwürde ein im täglichen Leben und in jeder Handlung der Staatsgewalt bereits berücksichtigter Wert sein, weil die Mißachtung der Menschenwürde einen auch vermittels der besten Schutzvorschriften nicht einholbaren Vorsprung hat. Wir alle sind deshalb aufgerufen, uns jeden Tag aufs neue die wahren Grundlagen eines menschlichen Zusammenlebens in Gerechtigkeit bewußt zu machen und dieser Einsicht gemäß zu handeln.

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