6651337-1959_03_01.jpg
Digital In Arbeit

Österreichs größtes Defizit

Werbung
Werbung
Werbung

In Erwiderung auf die bedeutsame Ansprache des Doyens des Diplomatischen Korps, des Apostolischen Nuntius Erzbischof Giovanni Dellepiane, auf dem traditionellen Neujahrsempfang — wir kommen auf sie an anderer Stelle in dieser Ausgabe unseres Blattes zurück — führte Bundespräsident Dr. Schärf unter anderem aus:

„Die zweite Aufgabe Oesterreichs (nach der wirtschaftlichen Integration, Die Red.) war und ist die Bewahrung und Weiterentwicklung seiner kulturellen Sendung. Die Wärme, mit der der Herr Apostolische Nuntius die bisherigen Leistungen auf diesem Gebiet gewürdigt hat, enthebt mich der Aufgabe, nochmals darauf hinzuweisen. Nur eines möchte ich sagen: Wir sind uns bewußt, daß es nicht genügt, überliefertes Gut zu bewahren; es gilt vielmehr, namentlich im Bereich der Wissenschaft, gewisse Rückstände wfzuholen und Verpflichtungen nachzukommen, deren Erfüllung ein wiedererlangter, bescheidener Wohlstand erst fetzt ermöglicht. Oesterreich hat den Eftrgeiz, auch in Zukunft in allen kulturellen Belangen nicht nur Empfangender, sondern auch Gebender zu sein.“

Der Bundespräsident weist hier behutsam auf eine Wunde hin, die mit schmerzlichem Erstaunen von wohlwollenden Freunden Oesterreichs in aller Welt schon lange wahrgenommen wird.

Werden wir konkret. Vor kurzem war, wie öfter in den vergangenen Jahren, der Repräsentant einer der größten amerikanischen Stiftungen für wissenschaftliche und kulturpolitisch wichtige Unternehmungen in Wien. Dieser Mann hat seinerzeit durch tatkräftige Initiative zwei der modernsten Neugründungen in Deutschland mitgeschaffen: die Freie Universität Berlin und die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Nun: diese amerikanische Stiftung wollte Oesterreich rund eine Million Dollar zur Verfügung stellen. Da sie auf dem Grundsatz strengster Nichteinmischung steht, sollte, mußte Oesterreich selbst Vorschläge für wissenschaftliche Unternehmungen vorlegen. Dies mißlang. Aus zwei Gründen. Es schienen allzuviele Mitbewerber auf, und es gelang nicht, wirklich bedeutende Vorschläge zu machen. Im kleinen Kreis wies der amerikanische Repräsentant darauf hin, daß er im Zusammenhang mit seiner Oesterreichreise sich in Nachbarländern, vorab in Jugoslawien und Polen, mit studentischen und akademischen Kreisen über ein vermehrtes Studium in Oesterreich besprochen habe. Diese würden an sich nicht ungern nach Oesterreich kommen, lehnen aber ab, da, wie sie sagen, „in Oesterreich nichts los sei..."

Ein hartes Urteil, nicht ganz gerecht, wie Urteile dieser Art zu sein pflegen, aber voll eines Wirklichkeitsgehaltes, den man überall im Ausland, zumal auch in Uebersee, vermerkt. Oft sehr laut vermerkt, ohne daß es hierzulande gebührend zur Kenntnis genommen wird: Oesterreichs Wissenschaft droht, durchaus sekundären, ja dritten Ranges zu werden, in Provinzialität und Eigenbrötelei abzusinken. Dies trotz einer Reihe bedeutender Lehrer, eines ansehnlichen Nachwuchses (der denn auch früh das Land verläßt), und trotz einer wirtschaftlichen Konjunktur, wie sie nie noch in der Geschichte unseres Landes bestand.

Auf das alles muß immer wieder hmgewiesen werden — trotz der außerordentlichen Anstrengungen des Unterrichtsministers und von Beamten seines Ministeriums.

Wo sind also die Hemmungen zu suchen? Die Führungsapparate und Institutionen' unseres wissenschaftlichen und akademischen Lebens sind einfach noch nicht soweit, einzusehen, daß eine außerordentliche Zeit außerordentlicher Anstrengungen bedarf. Es genügt nicht, sehr brav Arbeiten fortzuführen, denen heute in keiner Weise ein Primat mehr zukommt. Es kommt vielmehr darauf an, neue Wissenschaften und neue Institutionen zu schaffen, neue Arbeiten und Forschungen zu fördern, die auf die vielen neuen Nöte und Aufgaben einer global werdenden Gesellschaft Rücksicht nehmen. Das gilt für die Gesellschaftswissenschaften, die politische Soziologie, gilt für die Rechtswissenschaften, die humanistischen Wissenschaften, gilt nicht zuletzt für die weiten Bereiche „ärztlicher Seelsorge“, der therapeutischen und tiefenpsychologischen Disziplinen. Wer näher hinschaut, kann in jeder Wissenschaft, jeder Fakultät, Disziplinen entdecken, die bei uns nicht bestellt werden.

Darf es da wundernehmen, daß es bei diesem durchaus verkümmernden, sich nach innen einspinnendem Betrieb nicht gelingt, trotz wak- kerer Anstrengungen einzelner Wissenschaftler, die „ins Volk gehen“, wie etwa der Notring der österreichischen wissenschaftlichen Verbände, breitere Schichten des Volkes anzusprechen, ihr Interesse wachzurufen, auf den alarmierenden Zustand aufmerksam zu machen, daß ein Land, das in den letzten hundert Jahren der Welt bahnbrechende Forscher und neue Wissenschaften geschenkt hat, heute in Gefahr steht, zu verkümmern und abzusinken? Es ist die Selbstfesselung, im akademischen Raum, innerhalb der führenden Institutionen, die Oesterreichs größtes Defizit der Welt vorstellt, wenn man auch hier die Augen vor der harten Wirklichkeit verschließt.

Der oben erwähnte Amerikaner, ein Mann hoher Kultur und hellen Verstandes, hat sich enttäuscht von Oesterreich abgewandt, Wie viele Männer, die repräsentativ für ihr Volk sind, werden ihm noch folgen müssen, ehe bei uns die „Götterdämmerung“, besser die Men- schertdämm.erung, beginnt: das Erwachen an einem neuen Tag, an dem mutig und entschlossen neue Wege gesucht und gefunden werden, um das reiche Potential unseres Landes in Wissenschaft und höherer Kultur zu erschließen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung