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Offene Wünsche

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Die Geschichte der Mittelschule in Österreich ist unlösbar verknüpft mit dem Wirken der Benediktiner, Jesuiten und Piaristen, die den Mittelschultypus in der Form des Gymnasiums erfunden haben und für den sie bis tief in das 19. Jahrhundert hinein fast ein Monopol besaßen.

Vieles ist seitdem geschehen, gewaltige Umwälzungen haben stattgefunden, und auch für die katholischen Mittelschulen stellt sich die Frage, wie sie den Anforderungen des modernen Lebens und seiner gesellschaftlichen Verfassung gerecht werden. Solche Überlegungen können aber nur dann sinnvoll angestellt werden, wenn man ein möglichst genaues Bild der Situation vor Augen hat. Es ist daher sehr verdienstvoll, daß das Internationale katholische Institut für kirchliche Sozialforschung (ICARES) vor kurzem einen Bericht1 über die Situation der katholischen Mittelschulen in Österreich fertiggestellt hat, der erstmalig eine Gesamtdarstellung dieses Zweiges unseres katholischen Bildungswesens versucht. (Berücksichtigt sind nur die allgemeinbildenden Mittelschulen, deren Maturazeugnis zum Hochschulbesuch berechtigt.)

Es gibt heute 43 katholische Mittelschulen, und zwar 29 für Buben und 14 für Mädchen, deren geographische Verteilung nicht ganz befriedigt: Nicht versorgt sind' das südliche Burgenland, Niederösterreich nördlich der Do-u,'Kärnten (es hat'nur eine einiffge“ kätholWelVe Mittelschule im verkehrsmäßig isolierten Lavant-tal). Auch in Wien sind Wünsche offen: Die Schulen liegen in der Mehrzahl abseits der Verkehrslinien oder häufen sich in „bürgerlichen“ Bezirken. Günstig ist die durchschnittliche Größe der Anstalten, die zwischen 200 und 400 Schülern beträgt. Hinsichtlich der Schultypen ist bei den Buben das Vorherrschen des Gymnasiums, bei den Mädchen des Realgymnasiums sowie das völlige Fehlen der Realschule charakteristisch. An den Schulen wird fast durchweg nur nach einer einzigen Type unterrichtet.

An diesen Anstalten studierten im Berichtsjahr 5098 Buben und 4081 Mädchen, zusammen also 9179 Schüler2, das sind 11,2 Prozent aller österreichischen Mittelschüler. An speziellen Problematiken behandelt die Studie:

Abbau der Klassen mit hohen Schülerzahlen (21 Prozent der Schulklassen zählen im Berichtsjahr über 40 Schüler), wobei aus pädagogischen Gründen eine Schülerzahl von 25 bis 35 pro Klasse anzustreben wäre.

Neuerrichtung von Internaten, besonders für Mädchen. Während bei den Buben die Internatsschule die Norm ist und 80 Prozent der Schüler intern sind, fehlt diese Einrichtung bei vielen Mädchenschulen, so daß nur 19 Prozent der Schülerinnen intern sind. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß sich die Mädchenschulen durchweg in Städten befinden, wo aber vielfach nur ein Halbinternat gewünscht wird, das auch fast 12 Prozent der Schülerinnen besuchen. Eine echte Schwierigkeit besteht allerdings darin, geeignete Erzieher(-innen) zu finden.

Intensivierung der Förderungsmaßnahmen für begabte ärmere Kinder. Der Bericht stellt sich unter anderem die Frage, welchen Schichten der Bevölkerung der katholische Mittelschulunterricht zugute kommt oder, anders ausgedrückt, wieweit das katholische Bildungswesen in der Gesamtgesellschaft integriert ist. Die sorgfältige Analyse der sozialen Stellung der Väter ergab für die Selbständigen 48,5 Prozent, für die Angestellten und Beamten 35,4 Prozent, für die Arbeiter 9,3 Prozent. Zwischen den einzelnen Anstalten, vor allem zwischen Stadt und Land, ergaben sich starke Abweichungen von diesen Durchschnittszahlen. Bei einem Vergleich mit der Gesamtbevölkerung sind die obere und die obere Mittelschichte „überrepräsentiert“, während die untere Mittelschichte, die Arbeiterschaft und die arme Landbevölkerung vielfach nicht zum Zuge kommen. Ein Hauptgrund dafür ist die prekäre finanzielle Situation unserer Anstalten, die es nicht möglich macht, Schüler aus weniger zahlungskräftigen Kreisen in größerer Zahl aufzunehmen. Dazu kommt aber noch ein weiteres: Die katholischen Mittelschulen sind in unsere Gesamtgesellschaft ungenügend integriert, das heißt, sie kommen vielfach nicht den katholisch aktivsten Gesellschaftsschichten zugute. Eine Erweiterung des Einflusses unserer Anstalten auch auf andere Schichten wäre für die Kirche eine apostolische Aufgabe ersten Ranges, die durch großzügige Förderung begabter Kinder aus den ärmeren Kreisen geleistet werden müßte.

Notwendigkeit des Aufbaues eines tragfähigen Stammlehrkörpers. Die Privatschulen sind auch vor 1938 nicht mit den ordenseigenen Lehrkräften ausgekommen, sondern mußten Laienlehrkräfte zut Ergänzung ihres Lehrpersonals einstellen. Der ungenügende Ordensnachwuchs kann auch heute nicht den Bedarf an Lehrpersonal decken, wobei für die Anstalten der männlichen Orden noch bedeutende seelsorgliche Verpflichtungen hinzukommen; ähnliches gilt für die bischöflichen •GyMfiasien1' 'infolgedes bekannten ' Priesfef-rnangels. So sind 56 Prozent aller Lehrpersonen Laienkräfres(an deriiBubihschuie4'!4;r,Pro1fÖit, an den Mädchenschulen gar 66,7 Prozent).

Die Stifte und Klöster werden für längere Zeit auf weltliche Lehrkräfte angewiesen sein. Hier stoßen wir auf das sogenannte. „Man-paver“-Problem: Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Überangebot an geprüften Lehrkräften bestand und die Verpflichtung von Laienkräften für die katholischen Mittelschulen nicht schwerfiel, hat sich die Lage inzwischen infolge des stärkeren Zustroms der Zehnjährigen zur Mittelschule radikal geändert. Der „Produktionsüberhang“ an Mittelschullehrern ist fast zur Gänze aufgesaugt. In dieser Situation üben die Bundesmittelschulen eine starke Anziehungskraft aus, wobei die Entlohnung, insbesondere die biennale Vorrückung, eine Rolle spielt; vor allem aber die Höhe der Pension im Verhältnis zur — für Lehrer an Privatschulen allein erreichbaren — Angestelltenrente. Es wäre daher anzustreben: 1. Durchsetzung der Pragmatisierung .von Lehrern an Privatschulen in Form von „lebenden Subventionen“ wie vor 1938; 2. Entlohnung nach staatlichem Schema mit biennaler VorTÜckung und Abschluß einer Versicherung, die mit Eintritt der Wirksamkeit der Angestelltenrente die Differenz auf die staatliche Pension trägt. (Dieser Weg ist sehr kostspielig und daher nicht allgemein gangbar). 3. Bei Neugründungen wäre die Möglichkeit der Bildung eines „Insti-tutum saeculare“ durch die Lehrkräfte zu erwägen.

Notwendigkeit der Durchsetzung staatlicher Subventionen für Personal- und Sachauf-w a n d. Verbesserungen in den bisher genannten Punkten sind nur durch eine Besserung der wirtschaftlichen Lage der Institute möglich. Diese bestehen zwar in öffentlichem Interesse — der Bund könnte die rund 10.000 Schüler gar nicht an eigenen Anstalten unterbringen —, haben aber seit ihrem Wiederaufbau nach 1945 keinerlei materielle Unterstützung erfahren, weil die Frage der Subventionen bei den Parteienverhandlungen in unsachlicher Weise mit fremden Fragen verquickt wurde. Die Schulen sind daher gezwungen, ein verhältnismäßig hohes Schulgeld einzuheben, von dem sie nur in Ausnahmefällen Ermäßigungen gewähren können. Die Angaben über den Investitionsbedarf sind im Bericht zwar lückenhaft, aber sehr anschaulich: An 17 Anstalten besteht für dringende Investitionen ein Kapitalbedarf von 36,7 Millionen Schilling, für weitere wünschenswerte Investitionen zusätzliche 78,2 Millionen. Das sind verhältnismäßig niedere Zahlen, die vom Bund unschwer ins Budget übernommen werden könnten.

Unter den heutigen Umständen kann es nicht ausbleiben, daß die Anstalten fast sämtlich defizitär sind. Dabei schneiden die Mädchenanstalten etwas besser ab, weil sie durchweg höheres Schulgeld verlangen als die Bubenanstalten. Trotzdem beziffert sich das durchschnittliche Jahresdefizit auf 1159 Schilling pro Schüler.

Der Bericht erörtert auch noch die Frage — an Hand einer sorgfältig gearbeiteten Karte und statistischer Überlegungen —, wo noch in Österreich Mittelschulen fehlen. Im einzelnen werden folgende Orte und Räume empfohlen: Wien XXII (Stadlau); Mistelbach; Lilienfeld-Hainfeld; Stegersbach-Güssing; westliches Mühlviertel; Mürzzuschlag, eventuell Feldbach; St. Veit an der Glan; Telfs-Stams, eventuell Wörgl. Da die Anstalten für Mädchen mit wenigen Ausnahmen in den Landeshauptstädten gelegen sind, weist der Bericht darauf hin, daß für Neugründungen von Mädchenanstalten weitere Räume in Betracht kommen: Unterinntal; westliches Oberösterreich; Weinviertel; Obersteiermark; Kärnten. An allen diesen Plätzen hätten Schulorden und Laieninstitute Chancen, einem dringenden Bedürfnis abzuhelfen. Darüber hinaus werden der Kirche ganz allgemein Gründung und Ausbau von Internaten und Halbinternaten empfohlen.

Die Studie befaßt sich einleitend und abschließend auch mit der Situation der Mittelschulbildung in Österreich im allgemeinen. Die heutige Mittelschule hat vielfach den Charakter einer Ausleseschule verloren. Die Niveausenküng wird zwar bestritten, ist aber in der TraWgnck'-fteüstellen. Was uns fehlt, ist eine Mittelschultype, die zwar eine höhere Allgemeinbildung vermittelt, ohne aber eine Vorbereitung auf wissenschaftliches Arbeiten zu leisten. Diese Type wäre für alle jene Schüler, die von vornherein an kein Hochschulstudium denken, sondern nach Abschluß der Mittelschule sofort einen Beruf ergreifen wollen.; Eine Absolvierung dieser Type würde dementsprechend nicht ohne weiteres zum Besuch einer Hochschule berechtigen. Bei den Mädchen könnte das die Frauenoberschule sein (deren Absolventen erfahrungsgemäß ohnehin nur zu einem geringen Prozentsatz die Hochschule besuchen), während bei den Buben ein entsprechender Schultyp noch zu schaffen wäre.

Der hochschulvorbereitende Mittelschultyp jedoch bedürfte — neben entsprechendem Unterrichtsniveau und strenger Auslese — eines synoptischen Zusammenbaues der Erkentnisse der einzelnen Unterrichtsfächer zu einem modernen Weltbild, bevor der Jugendliche in die Spezialisierung des Hochschulstudiums entlassen wird.

Die Studie weist auf die historische Verantwortung und das erfolgreiche pädagogische Wirken von Männern der Kirche hin, deren Idee und Versuche vielfach offiziell aufgegriffen wurden, und meint, daß sich die Kirche die Förderung der geistigen Elite besonders angelegen sein lassen sollte. Der neue Mittelschultyp sollte — da eine Einführung eines 9 Mittelschuljahres von heute auf morgen nicht möglich ist — mit einem zunächst einmonatigen Kurs vor Beginn des Hochschu1jahres begonnen werden, der schon in nuce den Charakter des geforderten Abschlußjahres tragen sollte. Bei Bewährung könnte dieser Kurs allmählich erweitert und schließlich als abschließendes Jahr an die heutige Mittelschule angeschlossen werden. Obwohl die Studie betont, daß das alles noch viel geistige Vorarbeit benötigen werde, scheint uns der Vorschlag äußerst diskutabel und vielleicht der fruchtbarste Gedanke zur Erneuerung unserer Mittelschulbildung zu sein.

1 ICARES-Bericht Nr. 48: „Die katholischen Mittelschulen in Österreich.“ s Die Zahlen beziehen sich nur auf 38 Anstalten, da kein vollständige Dokumentation erreichbar war.

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