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Parteibuch und Demokratie

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In österreichischen Schulbüchern findet man die von den Vereinten Nationen in einer besonderen Resolution angenommene „Erklärung der Menschenrechte“ neben Auszügen aus dem „Österreichischen Staatsgrundgesetz“ abgedruckt. Der junge Österreicher wird damit vertraut gemacht, er habe als künftiger Staatsbürger das Recht auf „Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit“, das „Recht der freien Meinungsäußerung“, er dürfe nicht gezwungen werden, „einer Vereinigung anzugehören“, und er erfährt, daß „jeder Mensch unter gleichen Bedingungen das Recht auf Zulassung zu öffentlichen Ämtern besitzt“. — Auch in der Öffentlichkeit fehlte es nicht an Anlässen, die dazu wahrgenommen werden, rhetorische Bekenntnisse zu jenen Grundprinzipien der Demokratie abzulegen.

Es ist wohl gut, daß Jugendliche zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein in der Regel zumeist noch nicht klar zu unterscheiden vermögen, sonst müßten ihnen schon in der Schulbank vielfach Bedenken hinsichtlich theoretischer Bedeutung und praktischer Handhabung jener Thesen aufsteigen. So mancher junge Mensch müßte entsetzt wahrnehmen, wie in der Praxis des Alltags jene proklamierten Prinzipien so oft mit Füßen getreten werden, daß sie manchmal kaum mehr als den Wert des Papiers, auf das sie gedruckt sind, zu verkörpern scheinen. Freilich würde durch solche Erkenntnisse der sprichwörtliche Idealismus der Jugend nicht gefördert werden, und die politischen Parteien vor allem hätten es bei der Werbung um den begehrten „Nächwuchs“ noch um ein Beträchtliches schwerer, als dies schon ohnehin ist.

„Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören!“ — Greifen wir diesen einen Satz aus der Proklamation der Menschenrechte heraus! — Gilt dieser Grundsatz unumschränkt für unsere Demokratie? — Nach reiflicher Überlegung muß der Staatsbürger zu dem Schluß gelangen: er scheint bloß theoretisch zu gelten. Denn Verstöße dagegen sind so gut wie alltäglich geworden, sie werden kaum jemals gesetzlich geahndet, ja sie werden von manchem Verantwortlichen gefördert oder zumindest doch stillschweigend geduldet. Gemeint ist damit die heutzutage häufig geübte Praxis, die Österreicher in „Staatsbürger mit Parteibuch“ und solche „ohne“ zu scheiden. Niemand vermag ernstlich zu leugnen, daß auf eine nicht geringe Anzahl von Menschen von politischen Parteien Druck ausgeübt wird, daß man vor allem auf Lokalebene vielerorts versucht, mit Mitteln, die einer echten Demokratie unwürdig sind, Mitglieder zu gewinnen. So mancher Staatsbürger wird um persönlicher Existenzgründe willen zu Gesinnungsheuchelei und Pharisäertum gezwungen. Das Parteibuch wird mehr und mehr zum Maß aller Dinge — trotz lautstarker Bekenntnisse zur „Gesinnungsfreiheit“.

Wer kennt nicht Äußerungsformen jenes Zu-standes in so mancherlei Beispielen?

Größte soziale Bedürftigkeit genügt in so manchen Fällen nicht, um eine aus öffentlichen Mitteln errichtete Wohnung zu erhalten, wenn nicht der Bewerber über ein entsprechendes Parteibuch verfügt. In manchen Betrieben scheint es so gut wie selbstverständlich zu sein, daß man „organisiert“ sein muß, um nicht bei nächstbester Gelegenheit auf „Schwierigkeiten“ zu stoßen. Selbst bei Aufnahme von Schulentlassenen zieht man zuweilen vertraulich die Erkundigung ein, ob die Eltern des Bewerbers doch die gewünschte Parteifarbe besitzen. Manch ein förderungswürdiger Student vermag von keiner Seite ein Stipendium zu erhalten, weil er nicht „Farbe“ besitzt. Ein Staatsbeamter kann kaum jemals auf Aufstieg hoffen, wenn er sich nicht „irgendeiner Richtung“ anschließt. Es kann geschehen, daß er zugunsten eines „bewährten Parteimannes“ — natürlich aus „Dienistrücksichten“ — irgendwohin „verbannt“ wird. Selbst bei der Bestellung einer Putzfrau spielen Farbe und Alter des jeweils erforderlichen Parteibuches nicht selten eine Rolle. — Beispiele ähnlicher Art ließen sich fortsetzen.

Offiziell erklärt wohl keine Partei, in ihren Augen seien ihre Mitglieder bevorzugte Staatsbürger. Auch erklärt niemand öffentlich, für die Zuweisung einer Wohnung z. B. müsse ein Parteibuch vorhanden sein. Keineswegs! Dochdie Diskrepanz zwischen Gesinnungsfreiheit und Parteibuchpraktik bleibt dem Staatsbürger nicht verborgen. Dies untergräbt sein Vertrauen zur Demokratie. Denn er sagt sich wohl nicht zu Unrecht, daß Praktiken totalitärer Staaten, in denen das Parteibuch gleichsam einen Schlüssel für alles verkörpert, in einer demokratischen Gesellschaftsordnung keinen Platz haben sollen, auch nicht in abgeschwächter, gemilderter Form, sozusagen „auf Demokratie zugeschnitten“.

Nüchtern sehende, verantwortungsbewußte Parteifunktionäre bestreiten in privaten Gesprächen Mißstände der aufgezeigten Art keineswegs. Gelegentlich versucht man diesen mit dem Hinweis zu entschuldigen: „Die .anderen'machen es, daher sind auch, wir' zu ähnlichen Methoden gezwungen. Übrigens, Idealzustände werden sich halt nie verwirklichen lassen ...“

Wie verhält sich der Durchschnittsbürger zu dieser Gegebenheit? — Nun, als Österreicher nörgelt und schimpft er gelegentlich und steht auf dem bekannten Standpunkt: „Da kann man nix machen!“ Zuweilen fügt er hinzu: „Wessen Brot ich esse...“

Aus solch einer philosophischen Lebensweisheit heraus läßt es sich auch verstehen, wenn es vorkommt, daß in ein und derselben Familie Mitgliedsbücher verschiedener Parteien beziehungsweise richtunggebundener Berufsorganisationen „nach Bedarf“ vorhanden sind. Der Gatte, die Gattin und der Sohn gehören in Eintracht verschiedenen „Richtungen“ an. „Ja, wenn man es so haben will, warum nicht?“ ist der Leitsatz. — Es wäre wohl übertrieben, das geschilderte Beispiel als „typisch“ zu bezeichnen, doch Fälle ähnlicher Art kommen vor. Sie sind gewissermaßen symptomatisch für einen Zustand. — Manchmal wechselt man auch innerhalb kurzer Zeit wiederholt die Mitgliedschaft, weniger aus Überzeugung als den jeweiligen Erfordernissen entsprechend. — Manche Staatsbürger drücken sich zur Tatsache ihrer Mitgliedschaft etwa so aus: „Ich bin Mitglied, weil man eben irgendwo sein muß. Ich zahle halt meinen Mitgliedsbeitrag, nehme an der Jahreshauptversammlung teil, und die übrige Zeit will ich meine Ruhe haben.“ — Ein anderer Teil jener Mitglieder, der weniger aus Gründen der Weltanschauung, sondern aus irgendwelchen anderen Motiven heraus einer bestimmten Partei angehört, leidet im stillen unter der Gesinnungsheuchelei. Diese Gruppe von Mitgliedern steht in innerer Opposition zu „ihrer“ Partei: Man fühlt sich mehr oder minder in einer Art geistiger Zwangsjacke, aus der man sich nicht zu befreien vermag, ohne ernste Nachteile für sich oder seine Angehörigen befürchten zu müssen.

Es läge sicherlich im Interesse der Parteien selbst, in den Augen des Staatsbürgers nicht das geistige Konzept einzubüßen und auf das Niveau bloßer materieller Interessengemeinschaften abzusinken, gewissermaßen für manche Leute zu „Versorgungsvereinen“ zu werden. — Jede demokratische Partei sollte wohl auf Mitglieder der angeführten Kategorien großzügig verzichten können, da diese in etwaigen Krisenzeiten sowieso abgeschrieben werden müssen.

Zum Wesen einer lebendigen Demokratie muß es gehören, daß die politischen Parteien und deren Vertreter Kritik zugänglich sind, daß man nicht durch die Brille des Optimisten „ohnehin alles in Ordnung“ findet, sondern einer ständigen Selbstkontrolle und Selbstkorrektur fähig ist. Es genügt keineswegs, Negatives einfach mit dem Hinweis auf die unvermeidlichen Schönheistfehler der Demokratie abzutun.

Den besagten Parteibuchpraktiken sollten die Parteiführungen selbst energische Absage erteilen und sich von groben Verstößen gegen den Geist der Demokratie ernstlich distanzieren. Denn mit Gesinnungsheuchelei und gezüchtetem Pharisäertum kann letzten Endes auch den Parteien selbst nicht wirklich gedient sein. In einer demokratischen Gesellschaftsordnung sollte im Alltag des Staatsbürgers nicht jene Atmosphäre bestimmend sein, von der Boris Pasternak in „Dr. Schiwago“ sagt: „Die Mehrzahl der Menschen ist heutzutage, zu dauernder, bis zum System perfektionierter Heuchelei gezwungen ...“

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