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Parteimitglieder nicht anders

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10 Prozent haben schon einmal anders gewählt, 8 Prozent haben sich der Stimme enthalten oder ungültig gewählt: die Mitglieder einer ÖVP-Sektion in Neu-Kagran. In diesem einstigen Arbeitervorort im halb ländlichen Milieu stehen heute moderne Montagebau-Gemeindewohnblocks. Und dort erhoben einige junge Soziologen unter der Leitung von Dr. Gerhard Silberbauer in praktisch privater Initiative Struktur, Meinung und politisches Verhalten der dort ansässigen ÖVP-Parteimitglieder.

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10 Prozent haben schon einmal anders gewählt, 8 Prozent haben sich der Stimme enthalten oder ungültig gewählt: die Mitglieder einer ÖVP-Sektion in Neu-Kagran. In diesem einstigen Arbeitervorort im halb ländlichen Milieu stehen heute moderne Montagebau-Gemeindewohnblocks. Und dort erhoben einige junge Soziologen unter der Leitung von Dr. Gerhard Silberbauer in praktisch privater Initiative Struktur, Meinung und politisches Verhalten der dort ansässigen ÖVP-Parteimitglieder.

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Die Altersstruktur in Neu-Kagran zeigt ein deutliches Überwiegen junger Jahrgänge (und ist somit für Wien nicht generell typisch). Aber während 12 Prozent der Neu-Kagra- ner Bewohner unter 24 sind, sind nur 6 Prozent der ÖVP-Mitglieder in dieser Altersgruppe. Umgekehrt sind die über Fiinfundzechzigjährigen in der ÖVP überrepräsentiert. Erwartungsgemäß sind die ÖVP-Wähler überproportional Angestellte, Selbständige oder im öffentlichen Dienst tätig. Und die Mehrzahl (44 Prozent) verdient zwischen 2000 und 4000 Schilling.

ÖVP-Mitglieder sind nicht unbedingt Propagandisten ihrer Partei. 54 Prozent geben an, mit Freunden oder guten Bekannten nur selten über Politik zu sprechen, unter den Frauen sind es sogar 67 Prozent. Denn nur ein Drittel der Mitglieder interessiert sich für Politik sehr, 24 Prozent sind wenig oder überhaupt nicht an Politik interessiert. Warum sie dann wohl Mitglieder geworden sind?

Auch darüber gibt die Untersuchung Aufschluß.

20 Prozent gingen aus „Begeisterung für Idee und Ziele” zur ÖVP, 20 Prozent empfanden „Sympathie für die Politiker der Volkspartei”. Aber 29 Prozent geben unumwunden zu, aus „Hoffnung auf die Hilfe bei der

Wohnungsbeschaffung” ziur ÖVP gestoßen zu sein. Und was nicht wundert und noch viel mehr für die Wähler als für die Parteimitglieder gilt: 40 Prozent empfinden Abneigung gegen die anderen Parteien — und fanden deshalb zur ÖVP.

Dabei ist die Zufriedenheit mit dieser Partei erstaunlich groß: 64 Prozent behaupten, die ÖVP habe ihnen geholfen, nur 8 Prozent hat die Volkspartei enttäuscht. 17 Prozent haben die Partei nie gebraucht.

In den Sprengeln mit Gemeinde- bauten erklären 75 Prozent der ÖVP- Mitglieder, Hilfe erhalten zu haben. Aber war diese Hilfe ganz uneigennützig?

Auf die Frage „Wie kamen Sie zur Partei?” antworteten:

Ich wurde geworben 12%

Ich trat aus eigenem Antrieb bei 49% Man legte mir nahe, baizutreten 34% Keine Antwort 5%

Sind diese Bekenntnisse als Symptome einer defekten Demokratie zu werten? Oder sprechen sie nur dafür, daß man der Politik mit „gesundem Realismus” gegenübersteht? Immerhin beweisen die Ergebnisse, daß die ÖVP sehr wohl ihr Kontingent an Gemeindewohnungen erhielt und treulich verwaltete. ÖVP-Mitglieder dieser Art sind auch funktionsmüde. Das überrascht nicht.

Nur 10 Prozent würden eine Parteifunktion übernehmen.

An „Gschafteln” nicht interessiert

53 Prozent besuchen Parteiveranstaltungen fast nie, 33 Prozent selten. Und nur 4 Prozent finden diese Parteiveranstaltungen dann „ausgezeichnet”, 37 Prozent geben lieber keine Antwort. Nur jedes zweite Mitglied liest die Parteizeitung „hin und wieder”, 35 Prozent finden sie „mittelmäßig”.

Aber vielleicht liegt alles nur an der schlecht funktionierenden innerparteilichen Demokratie? Nun: Ganze 19 Prozent meinen, daß die ÖVP auf die Ansicht der einfachen Mitglieder und kleinen Funktionäre genügend Rücksicht nimmt; 42 Prozent sagen das Gegenteil.

„Mundpropaganda” vernachlässigt?

Mitglieder sollten Aktivisten sein. So zumindest will es die Schablone. Aber die Soziologen haben anderes festgestellt: „So wird die Mitgliedschaft in weitaus geringerem Maße für Zwecke der Mundpropaganda eingesetzt. Man verläßt sich dafür mehr auf die Werbewirksamkeit der Massenmedien und auf traditionelle 4magebildende’ Vorteile gegenüber der Gegenpartei. Auf die Stimmung unter den Mitgliedern wird innerhalb der ÖVP weit weniger Bedacht genommen als auf die sich in den Massenmedien niederschlagenden Ausdrucksformen der öffentlichen Meinung.”

Aber wie sollten diese Mitglieder auch Mundpropagandisten sein? Wo in 56 Prozent der Familien über Politik nur selten, in 6 Prozent angeblich überhaupt nie gesprochen wird? In ganz; Österreich besitzt die Volkspartei — ihren eigenen Angaben zufolge — etwa 950.000 Mitglieder, die SPÖ kommt hingegen auf bloß 750.000 Mitglieder. Die Angaben der Volkspartei sind allerdings insofern verfälschend, weil bei den Bauern alle Familienmitglieder mitgezählt werden. Überdies ist es ein offenes Geheimnis, daß die Zahl der Mitglieder für die Zahl der Delegierten bei Parteitagen ausschlaggebend ist. So schwindeln Bezirke, Länder und Bünde nur allzugern. In Wien würde, dem Vernehmen nach, in einigen Bezirken die Zahl der noch immer geführten, längst verstorbenen oder weggezogenen Mitglieder eiinen stattlichen Festsaal füllen.

Doch die ÖVP darf sich trösten:

In jener Gruppe von ÖVP-Mitglie- dern, der die Soziologen auf Grund von Sozialmilieu und besserer Bildung „höheren Einfluß” zugebilligt haben, sind 19 Prozent mit der Politik der Partei „vollkommen” einverstanden. Freilich, ebenso viele sind es nicht.

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