7133958-1997_39_08.jpg
Digital In Arbeit

Pilgerstätte für Wissensdurstige

19451960198020002020

Wo sich Jörg Haider Ezzes holt: Auf der „Harvard Summer School” sind Fleiß und politisch korrektes Benehmen gefragt.

19451960198020002020

Wo sich Jörg Haider Ezzes holt: Auf der „Harvard Summer School” sind Fleiß und politisch korrektes Benehmen gefragt.

Werbung
Werbung
Werbung

An die 5.000 Studenten aus aller Welt besuchen jährlich die „Harvard Summer School” in Cambridge bei Boston. Gefordert werden Fleiß und Disziplin, geboten werden umfassende Bildungsmöglichkeiten, aber auch eine Fülle von Freizeitprogrammen. Die obersten Maximen der Universität sind „All day long - all year long - all life long learning” und: möglichst effiziente Ausnützung der Bildungseinrichtungen und des Lehrkörpers.

Die ersten Auswirkungen der nach wie vor lebendigen protestantischen Ethik der White-Anglo-Saxon-Prote-stants bemerkt der Teilnehmer an einem der bis zu acht Wochen dauernden Programme bereits beim Beziehen der Unterkunft. Die Ausstattung ist karg, um nicht zu sagen spartanisch - eine alte Kommode, ein Bücherbord, ein massiver Schreibtisch mit Sessel und ein Bett mit abgenutzter Matratze. Geboten werden als kleine Gastgeschenke: eine Überdecke mit dem Harvard-Wappen und dem Motto (Veraas), eine Kappe, ein Kugelschreiber, eine Umhängetasche für Geld und Paß und ein Kopfpolster; Leintuch und Polsterüberzug sind mitzubringen oder ebenso im voraus zu mieten wie das Telephon und weitere zwei wegen der hochsommerlichen Temperaturen unerläßliche Utensilien: Ventilator und Kühlschrank. All diese Ausgaben müssen zu den Kurskosten von mindestens 1.200 Dollar hinzugerechnet werden, wobei die tatsächlichen Ausgaben von der Anzahl der Kurse und vom gewählten Lebensstil abhängen. Zum Vergleich: ein Regelstudienjahr kostet etwa 30.000 Dollar.

Jeder der Räume verfügt über einen Internetanschluß, der mit dem eigenen Laptop genutzt werden kann und auch einen Zugriff auf das universitätseigene Informationssystem ermöglicht. Außerdem verfügt Harvard über ein eigenes Telephonsystem, wobei Gespräche am Campus gratis sind. Gratis angeboten werden auch der Zugang zum Internet und das Surfen im World Wide Web. Ebenfalls kostenlos benutzbar sind die Computer in den Schlafräumen und in dem von der Firma Polaroid erbauten „Science Center”; auf diesen Computern können die Studenten nicht nur Hausarbeiten verfassen, sondern sich ebenfalls gratis eine eigene e-mafl-Adresse einrichten und weltweit kostenlos kommunizieren. Lediglich für das Drucken wird eine geringe Gebühr verrechnet, die direkt über die Identitätskarte abgebucht wird, die jeder Student besitzt und die •den Zugang zu fast allen Universitätseinrichtungen'ermöglicht (zum Beispiel den zahlreichen Bibliotheken).

Puritanisch-spartanisch sind die geforderten Verhaltensweisen: Rauchen ist auf dem gesamten Universitätsgelände einschließlich der Studentenbuden verboten. Alkohol darf erst ab 21 Jahren konsumiert werden, wobei in Städten des Bundesstaates Massachusetts auch die öffentliche Konsumation von Alkohol - etwa das Trinken einer Flasche Bier auf einer Parkbank oder im Stadtzentrum - bei Strafe verboten ist. Partys mit mehr als zehn Studenten in den Unterkünften sind ebenso genehmigungspflichtig wie das Beherbergen von Gästen, das maximal für ein oder zwei Nächte erlaubt ist. Ein 44jähriger Angehöriger des US-Verteidigungsministeriums, der seine Ehefrau zwei Tage bei sich wohnen ließ, ohne angesucht zu haben, wurde von der Üniver-sitätsverwaltung schriftlich abgekanzelt wie ein Schulbub.

Strenge Regeln

Ausdrücklich verboten ist jede Form von rassischer, religiöser oder sexueller Diskriminierung, eine Verhaltensmaßregel, auf die auch in einem Handbuch für Studenten hingewiesen wird. Das gilt insbesondere für gleichgeschlechtliche Beziehungen, wobei erstmals diesen Sommer für Universitätsangehörige in der „ökumenisch” gestalteten Memorial Church (gebaut zur Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkrieges) „Eheschließungen” zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren gestattet wurden.

All diese Regeln und Bestimmungen (weitgehend) befolgt sowie die umfangreichen Freizeitangebote (vom Tischfußball bis zum Besuch des Musikfestivals in Tanglewood) ausgenutzt haben im vergangenen Jahr 4.922 Studenten, denen 350 Lehrer und etwa 250 Kurse geboten wurden (für heuer liegt noch keine Statistik vor). Die Palette reicht dabei vom Chemieseminar über Makroökonomie und Kurse des Harvard Institute for International Developement (Leiter Jeffrey Sachs, prominentester Teilnehmer Jörg Haider) bis zur acht-wöchigen Harvard Ukrainian Summer School, an der der Autor dieses Beitrages und weitere 53 Studenten (davon 21 Stipendiaten aus der Ukraine) teilgenommen haben. Geboten wurden in diesem konkreten Fall Sprachkurse sowie Vorlesungen zur Geschichte, zur aktuellen politischen Situation und zur Literatur dieses Landes. Populärstes Einzelprogramm der Sommer-Schule sind die Sprachkurse des Instituts für die Englische Sprache, die 1996 von 830 Studenten besucht wurden.

Harte Ausbildung

Unter den 5.000 Teilnehmern bildeten und bilden die größte Gruppe die Asiaten (Japan, Korea, Taiwan) mit mehr als 500 Studenten, gefolgt von den Lateinamerikanern und Europäern, darunter 33 Österreicher im Jahre 1996. Etwa 1.000 der 5.000 Studenten nehmen im Rahmen des „Se-condary School Program” an der Sommer-Schule teil. Weitere 500 „Studenten” stellt das „Institute for Learning in Retirement” (Universität für das dritte Alter), wobei etwa ein pensionierter australischer Architekt seiner Leidenschaft frönt und Vorlesungen über Shakespeare hält.

All diese Studenten ermöglichen Harvard im Sommer einen Reingewinn von umgerechnet etwa 40 Millionen Schilling, ein Betrag, den die Universität auch mit ihrer Abendschule verdient, die im September beginnt, ebenfalls ein umfangreiches Kursprogramm bietet und von bis zu 9.000 Studenten frequentiert wird. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch das jüngste Bildungsangebot von Harvard, nämlich Internetkurse zu verschiedenen mathematischen Disziplinen.

Harvards Studenten gehen durch eine harte, anforderungsreiche, aber klar strukturierte Ausbildung, die das selbständige Denken fördert und das eigenständige logische Argumentieren honoriert. Am Kurs über ukrainische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hatten sich die Teilnehmer das erforderliche Grundwissen zumindest in groben Zügen durch entsprechende Vorbereitung selbst anzueignen, weil der Professor den begründeten Standpunkt vertrat, daß der Student nicht nach Harvard komme und Tausende Dollar bezahle, um Dinge zu hören, die er zu Hause selbst lesen könne. In diesem Sinne wurde die Vorlesung auch von intensiven Diskussionen über das Gelesene geprägt. Auch bei den zwei schriftlichen Prüfungen waren die Studenten stets zum Ausdruck ihrer eigenen Auffassung angehalten.

Faszinierend ist aber auch das Leben auf dem Campus der ältesten und besten (privaten) amerikanischen Universität, deren Gebäude die Geschichte der USA und manche Tragödien widerspiegeln. So werden etwa in der für die 1.500 freshmen (Erst-semstrige) konzipierten Mensa (Memorial Hall/Annenberg Hall) neben Vertretern der ßildungsideale des klassischen Altertums • und Universitätsgrößen auch die im Bürgerkrieg gefallenen Studenten geehrt - allerdings trotz mehrmaliger Proteste nur jene, die auf der Seite der Nordstaaten kämpften, während die anderen der auch in den USA verbreiteten selektiven Vergangenheitsbewältigung zum Opfer fallen.

Mythos John Harvard

Zu nennen ist auch die Widner Library mit ihren mehr als zwei Millionen Bänden; sie wurde von der Mutter eines Absolventen gestiftet, der - wie sein Vater ein Büchernarr - gemeinsam mit ihm 1912 in London Bücher einkaufte und mit einem Schiff mit Namen „Titanic” nach New York zurückkehren wollte. Mutter Widner war der Überzeugung, daß ihr Sohn nicht gestorben wäre, hätte er in seiner Jugend schwimmen gelernt. Daher stiftete sie die zwei Millionen Dollar zur Errichtung dieser Bibliothek zum Andenken an ihren Sohn unter der Auflage, daß alle Harvard-Absolventen schwimmen können müssen, eine Bestimmung, die angeblich bis in die sechziger Jahre erfüllt wurde.

Zum Mythos der Universität zählt auch das glückbringende Denkmal ihres „Gründers”, das von den Studenten als „Denkmal der drei Lügen” genannt wird: Erstens stellt die Skulptur nicht John Harvard dar, von dem niemand weiß, wie er aussah, sondern einen Verschnitt von Bildern der damaligen Zeit; zweitens wurde die Uni nicht, wie angegeben, 1638 (das Todesjahr Harvards), sondern zwei Jahre früher gegründet; und drittens war Harvard zwar der bedeutendste Förderer, aber nicht der Gründer - das war der Great and General Court of the Massachusetts Bay Colony.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung