PISA für Minister!

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Die OECD-Bildungsstudie aus der Sicht eines Lehrers.

Wenn ein Thema soviel Wirbel auslöst und die Medien über eine Sache mehr Quantität als Qualität produzieren, muss man stutzig werden. Jedenfalls ist es hochinteressant, welche Themen die Titelblätter der Zeitungen schmücken dürfen und welche nicht. Der Umstand, dass vor lauter Vergleichen an der Sache vorbeidiskutiert wird, wäre eine eigene Untersuchung wert. An Nützlichkeit würde sie die PISA-Studie wohl übertreffen.

Das Messen war nicht immer ein Menschheitstraum; erst in der Moderne schickte man sich vermehrt an, Messbares zu quantifizieren und in eine Ordnung zu bringen. Als einer der Begründer der Moderne gilt der Philosoph René Descartes, der die Scholastik belächelte und klare, nachvollziehbare Urteile postulierte. Nur wenn es einem gelinge, die "Wahrheit" über von der Mathematik entlehnte Methoden zu fassen, sei Wissenschaftlichkeit gegeben, so der Franzose. Die geistigen Köpfe von damals inspirierten sobald andere und schließlich ganz Europa. Man versuchte die Natur tiefer zu ergründen, um sie endlich zu beherrschen. Auf diese Weise starben Tabus und Mythen, worauf die Welt bereit war für die Aufklärung, Industrialisierung und für technologischen sowie wirtschaftlichen "Fortschritt". In der Gesellschaft manifestierte sich dies bis zum heutigen Tag im Untergang des Bauernstands und im Aufstieg des bürgerlichen Lebens.

Was hat dies aber mit der PISA-Studie zu tun? Sie ist ein typischer Ausdruck des modernen Denkens sowie Urteilens und ist ein Produkt dieser Geistesströmung. Einige hundert Jahre Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte waren notwendig, dass die PISA-Studie überhaupt das Licht der Welt erblicken konnte. Sie steht daher in tiefer Abhängigkeit zur ersteren.

PISA-Kritiker Descartes?

In erkenntnistheoretischer Hinsicht muss jedoch dieser Dualismus mit kritischen Blicken begutachtet werden, da sich in diesem konkreten Fall die Bildung mit Methoden untersuchen und beurteilen lässt, die mit ihr nahe verwandt sind. Folglich wird verständlich, dass die Wissenschaftler wahrscheinlich nicht aus einer unbefleckten Position mit neutralem Blickwinkel ihr Werk verrichtet haben. Es würde nicht wundern, wenn Descartes - falls er heute noch leben würde - selbst einer der größten Kritiker dieser Studie wäre.

Hauptschulniveau in AHS

Man muss nicht unbedingt darüber philosophieren, man kann es auch praxisnäher darlegen. Als Lehrer bekommt man ja täglich Stoff dafür geliefert. Dass viele Schüler und Schülerinnen Lese- und Schreibschwierigkeiten haben, stelle ich auch ohne PISA fest. In meinem ersten Unterrichtsjahr an einem Gymnasium in Wien erklärte mir meine Betreuungslehrerin, ich müsse mich damit abfinden, dass mir lediglich "Schülermaterial" mit besserem Hauptschulniveau zur Verfügung stehe. Da hatte sie nicht unrecht (ich möchte es aber nicht als eine Diskreditierung der Hauptschule verstanden wissen). Die schriftlichen Leistungskontrollen waren überhäuft mit Rechtsschreibfehlern und verkümmerten Formulierungen. Mit diesen Schwächen hätte ich noch leben können. Was mir viel mehr zu denken gab, war der monotone Geist, der die gesamte Schule umgab und den ich "institutionsspezifisches Herumirren" nennen möchte. Meinen Schülern ging es nicht um den Inhalt (vielleicht trifft mich hier eine gewisse Schuld?), sondern um die Note; nicht die Freude an Bildung stand im Vordergrund, sondern das Zeugnis. Da spielte es keine Rolle, ob jemand zielstrebig einem "Sehr Gut" nachging oder sich mit einem "Genügend" zufrieden gab: Die Ziffern auf den schulischen Urkunden mussten passen! Und war dies so, dann gaben die Eltern, der Direktor und eine Großzahl der Schüler eine Ruh. So entstand vorerst scheinbarer Konsens in der Schule, doch machte er niemanden glücklich. Die Institution war für alle ein Muss ohne jegliche Sympathie. Das betrübliche innere Klima war schließlich ein Ausgangspunkt für klasseninterne Konflikte. In meiner Klasse musste der Schulpsychiater aushelfen, damit ein halbwegs normaler Unterricht wieder möglich wurde.

Es ist in diesem Fall nicht sehr abwegig, wenn Schüler Texte nicht verstehen geschweige denn Zusammenhänge erkennen können, wenn jeder zweite Satz im Mund des Jugendlichen stecken bleibt, weil er um die richtigen Worte ringt. Wenn die Freude am Lernen fehlt, wird die Mathematik nicht als nützliches Hilfsmittel für den Alltag gesehen, sondern als Hindernis auf dem Weg zur Matura. Die einen bekämpfen die Hürde erfolgreich mit großer Ausdauer, die anderen geben auf und verlassen die Schule.

Im breiteren Zusammenhang greift die PISA-Studie viel zu kurz. Sie misst - wenn man einmal von der erkenntnistheoretischen Problematik absieht - gerade einmal Fragmente unserer Bildung. Auch die Diskussionen um sie, die ein wunderbares Exempel für ein anderes "institutionsspezifisches Herumirren" darstellen, haben die Qualität weiter gesenkt. Vor allen Dingen hat die politische Kultur gezeigt, wie unsachgemäß an ein so sensibles, subtiles Thema herangegangen werden kann. Vielleicht rollt noch der eine oder andere politische Kopf - der große Verlierer ist allerdings jetzt schon der Patient: unsere Bildung. An Stelle einer befruchteten Diskussion schießt man quer, verleumdet den anderen und sucht die Schuld bei Dritten. Letztendlich fühlt sich niemand angesprochen. Die Gefahr ist groß, dass sich die Sache ohne Reparaturen wieder verläuft.

Unreflektiertes Messen

Mir persönlich - und ich glaube, für manche Lehrerinnen und Lehrer zu sprechen - bedeutet die Studie wenig. Meine Apathie gegen ständiges, oft unreflektiertes Messen wird gestärkt durch nutzloses Vergleichen. Beim Skifahren dürfte ein Ranking noch einen Sinn ergeben und lässt sich leicht erstellen, in der Bildung ist dies jedoch alles andere als produktiv. Und wenn man schon die Schüler examiniert, was spricht dagegen, auch einmal die Lehrer unter die Lupe zu nehmen. In diesem Sinn fordere ich eine PISA-Studie für Unterrichtsminister und -Innen. Hier allerdings wäre ein Ranking allemal interessant. Welchen Platz dann Österreich wohl einnehmen würde?

Der Autor ist Historiker und Gymnasiallehrer für Geschichte und Leibesübungen in Bregenz.

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