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Randbemerkungen zur woche

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Vier Jahrzehnte, zwei 'Weltkatastrophen, Untergang und Wiedergeburt des österreichischen Staates trennen die Gegenwart von dem 10. März 1910 — dem Todestag Dr. Karl Lu e g e r s. Wer heute die Frage nach der bleibenden, der wahren Bedeutung Luegers stellt, dem tritt nicht mehr ein von Gunst und Haß verzerrtes Bild des gewaltigen Agitators, des Lieblings der Massen, des „Herrgotts von Wien“ entgegen, sondern das eines Menschen, der die erste Volksbewegung in Österreich entfesselte, gleichzeitig aber auch durch seine Person und Persönlichkeit die in Bewegung gesetzten Massen in Ordnung, in Zucht zu halten verstand. Wer heute wissen will, was Lueger der Gegenwart zu sagen hat, dem begegnet ein Mann, der als erster in diesem Staat der Allgemeinheit dienende Unternehmen dem Einfluß des Privatkapitals entzog und in Besitz öffentlicher Institutionen übernahm, der aber nie allein um des Prinzips willen, einer Doktrin zuliebe, einen Weg fortsetzte, sobald er erkannt hatte, daß dieser nicht mehr zum Nutzen der Gemeinschaft führte, Lueger — heute“! Ein Volksführer von großem Format, ein Politiker, der um sein Ziel und deshalb auch um seine Grenzen wußte, ein bedingungsloser Österreicher. Er hat auch der Gegenwart manches zu sagen.

Der Staatsvertrag ist wieder einmal auf einige Zeit in die Schreibtischlade gewandert. Ein Ereignis, das Überlegungen des Kalten Krieges entspringt. Ein solches Ereignis bietet immer gewissen Kreisen die Möglichkeit, mit „informativen“ Einblicken in die politischen Kulissen aufzuwarten und sich in den Vordergrund der Tagessensation zu spielen. Diesmal ist aber überraschenderweise auch das Spitzenblatt der angelsächsischen Journalistik — dt „Times“ — unter die Histörchensammlsr gegangen und zum Erstaunen der Bevölkerung des staatsvertragswartenden Österreichs kredenzt sie der Weltöffentlichkeit einen Cocktail von innerösterreichischen Meinungen, Strömungen, Urteilen und Problemen, der wohl eine ausgezeichnete Phantasie verrät, aber in gleichem Maße einer scharfsinnigen Beobachtergabe ermangelt. Die Entdeckung starker Anschlußlendenzen an Westdeutschland in West-österreich und eines Wiederauflebens des Nazismus in Gesamtösterreich ist geradezu bestürzend für das österreichische Volk, das bisher in Unkenntnis dieser „Tatsachen“ gelebt hat, denn man kann diese Impressionen nur als Irrungen amputa-tionsfreudiger politischer Ärzte vom Schlage eines Wickham Steed, Cheradame, Setpn Watson ansehen, die sich seinerzeit eifrig um die Zerlegung der österreichischungarischen Monarchie bemühten, um dann an ihrem Grabe Tränen bekümmerter Selbsterkenntnis zu weinen.

Eine Konferenz im Sozialministerium über die Arbeitslage der Jugend ergab alarmierende Zahlen. 1949 wurden 77.069 Schulentlassungen gemeldet. Am Ende des Jahres betrug die Zahl der Lehrstellensuchenden jedoch noch immer 10.873 (6919 männlich, 3954 weiblich). Dazu kommen noch 6000 Jugendliche des vorigen Jahrgangs. Praktisch sind die Zahlen noch ungünstiger, denn der Andrang zu den Mittelschulen entspringt ebenfalls dem Fehlen anderer Ausbildungsgelegenheiten und ist eigentlich Ausdruck einer verschleierten Arbeitslosigkeit, ebenso wie die Erscheinung, daß viele Mädchen im elterlichen Haushalt verbleiben. In den kommenden Jahren werden sich überdies die Zahlen noch weiter verschlechtem: 1953 wird Österreich 133.S69, 1954 sogar 150.380 Vierzehnjährige aufweisen.

Die bisherigen Vorschläge zur Regelung der Jugendfrage werden der Größe des Problems nicht gerecht. Der Vorschlag, ein neuntes Schuljahr einzuführen, verschiebt die Frage nur um ein Jahr. Sinngemäß gilt das gleiche für die gesamte Flucht in die höhere Schulbildung. Tatsache ist, daß Industrie, Gewerbe und Handwerk wegen der schweren finanziellen Belastung, die Lehrstellen bedeuten, keine Freude an Lehrlingen besitzen. Die Wirtschaft wünscht fertige Arbeitskräfte. Auf der anderen Seite herrscht bei den Eltern vielfach Abneigung, die Kinder einem kleinen Unternehmen zur Berufserziehung zu überlassen. Man fürchtet, daß der Lehrling Dienstbotenersatz wird. Man wünscht heute in Elternkreisen eine konzentrierte praktische Berufsausbildung, wie sie -um Beispiel in unseren vorzüglichen Modeschulen geboten wird und für die das Technologische Gewerbemuseum vorbildlich war und ist. Das Streben nach handwerklich-technischen Berufen ist heute in der Jugend groß, der Bedarf an fertig ausgebildeten Facharbeitern auch. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit liegt im Problem der Ausbildung. Man muß hiefür die geeigneten Institutionen schaffen und wird damit die Jugendarbeitslosigkeit, den Zustrom um Studium und den Mangel an Facharbeitern gleich' zeitig beheben.

Vertreter der Arbeiterkammer, der Wirtschaft und des Handels haben sich über ein Sozialprogramm zur Erzeugung billiger Schuhe geeinigt. Dazu soll ein Kontingent Rahleder dienen, das aus Mitteln des Marshall-Planes eingeführt und zum alten, niedrigeren Dollarkurs abgerechnet wird. Insgesamt ist die Erzeugung von etwa 1,1 Millionen Paar Schuhe vorgesehen, deren Preis ungefähr 120 Schilling betragen wird. Es ist zu hoffen, daß auch in denjenigen Kreisen, die heute mit kargen Staatsgehältern oder den wenig reichlichen Erträgnissen geistiger Arbeit ihr Auslangen finden müssen, mancher zurückgestellte Wunsch in Reichweite der Erfüllbarkeit rückt. Trotzdem will man dieses Projekts nicht gänzlich froh werden. Die zur Erzeugung der billigen Schuhe bestimmte Ledermenge soll nämlich zu 90 Prozent der Industrie zufließen, während Mittelbetriebe den Rest zur Erzeugung von Kinder- und Spezial-schuhwerk erhalten. Die beträchtliche Menge der kleinen Gewerbetreibenden geht bei der Zuteilung des billigen Leders leer aus. Deshalb soll auch bereits in absehbarer Zeit mit einem beträchtlichen Steigen der Reparaturkosten zu rechnen sein. Ein Szial-programm sollte seinen Namen auch wirklich verdienen. Einseitige Planung wird immer Gefahr laufen, ihren eigentlichen Zweck empfindlich zu mindern.

Unter den glücklicherweise immer zahlreicher werdenden Versuchen, die Notlage unserer bildenden Kunst zu mildern oder gar zu beheben, gebührt der „D okt a r-Renner- Aktion“ — so genannt, weil sie auf eine Anregung des Bundespräsidenten zurückgeht — besondere Aufmerksamkeit. Sie sieht nämlich vor, daß ein Prozent der für den Wiederaufbau Wiens verwendeten Summen zur künstlerischen Ausgestaltung von Gebäuden, Parkanlagen und anderen öffentlichen Einrichtungen verwendet werden soll, zu der die Künstler durch Gemeindeauftrag bestellt werden, Es leuchtet ein, daß eine Aktion solchen Umfang -r in verhältnismäßig kurzer Zeit wurden Aufträge in der Höhe von 60.000 Schilling vergeben — von hoher kultureller Bedeutung und zudem noch geeignet ist, einen Präzedenzfall abzugeben, der beispielsweise zu einer nachsichtigeren Steuerpraxis gegenüber Wirtschaftsunternehmungen oder auch Privatleuten veranlassen könnte, welche künstlerische Leistungen durch Ankauf von Werken oder sonatige Unterstützung zu fördern bereit sind. Man erfährt auch, daß verschiedene Gemeindeverwaltungen in den österreichischen Bundesländern die Aktion der Wiener Schwesterinstitution gleichfalls in ihr Programm aufgenommen haben. Ob es richtig und ersprießlich ist, die Verteilung der Aufträge nicht einer fachmännischen Jury, tondern einem Künstlerverband zu überlassen, ist freilich recht fraglich. Die Integrität dieser Berufsvereinigung ist gewiß nicht zu bezweifeln. Aber wie sollen beispielsweise tüchtige Künstler, die ihr nicht angehören, zu Aufträgen kommen? Und wie soll auf mehr oder minder administrativem Weg entschieden werden, ob ein unterstützungsbedürftiger Künstler zugleich auch ein sehr guter Künstler ist? Kein Wettbewerb, keine Jury — es lassen sich Unzuträglichkeiten prophezeien.

Die sowjetische Staatsbank hat den R u-bel auf Goldbasis gestellt und dabei das wirtschaftlich Nützliche mit einer Geste verbunden, die bestimmt ist, die Weltöffentlichkeit zu beeindrucken. Bekanntlich hat die Sowjetunion bisher alle ihre Handelsabmachungen, selbst jene mit den Ostblockländern, auf die Dollarwährung abgestellt. Auch der Vertrag mit Sowjetchina drückt noch das Ausmaß der sowjetischen Warenlieferungen in einer Dollarziffer aus. Die Erhebung des Rubels zur Goldwährung wird danach wohl der erste Schritt dazu sein, dem Dollar- und dem Sterlingblock einen golduntermauerten Rubelblock entgegenzustellen. Da die Räteunion über reiche Goldvorkommen verfügt und im Lena- sowie im Dalstrojgebiet die Goldgewinnung forciert, verfügt sie nach den USA über den zweigrößten Goldschatz der Welt. Die reale Unterlage zu einem solchen Schritt ist also sicherlich gegeben. Die Tatsache, daß die staatlich gelenkte sowjetische Wirtschaft ihr Handelsvolumen jederzeit den vorhandenen Deckungsmitteln anpassen kann, daß ferner ein freier Rubelhandel nicht existiert, nimmt dem Schritt zur Goldwährung überdies das Wagnis. Wie immer steht aber auch hier der propagandistische Aspekt gleichberechtigt neben dem Wirtschaftlichen

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